Lew Tolstoi, Krieg im Kaukasus

lew tolstoi krieg im kaukasusTourismus und Krieg sind die Triebfedern dafür, dass wir uns zwischendurch für die Literatur scheinbar entlegener Gegenden interessieren. Manche halten den Tourismus für eine Sonderform des Krieges, was die Lesemotivation noch einmal vereinfacht. Am liebsten sind uns dabei Dinge, die uns schon vertraut sind.

So bringt eine Neuübersetzung der altvertrauten Texte Lew Tolstois den angenehmen Effekt, dass wir mit der Lektüre auf der Höhe des sprachlichen und sonstigen Zeitgeistes sind. Außerdem ist das Gruseln alter Texte besonders wirksam, wenn es in einer griffigen Gegenwartssprache geschieht.

Bei Lew Tolstoi handelt es sich um einen Giga-Dichter, dessen Gesamtausgabe hundert Bände beträgt und der wohl Teil des russischen Gedächtnisses ist. Wie bei einem solchen niedergeschriebenen Imperium üblich, gibt es kaum ein Thema, das sich nicht gesondert herauskristallisieren und mit Texten bestücken ließe. So gehört der Krieg im Kaukasus zur russischen Seele, wie, hämisch formuliert, der Abfahrtskrieg am Hahnenkamm zur österreichischen Identität gehört.

Ein eigenes Buch mit dem Titel „Krieg im Kaukasus“ hat es nicht gegeben, aber dieser Titel könnte das Rahmenprogramm Tolstois beschreiben. Seine erste Prosa, auf der ersten Kaukasus-Reise entstanden, ist „Der Überfall“ aus dem Jahre 1852. Die letzte Geschichte dieser Sammlung, die Erzählung von „Hadschi Murat“, einem Widerstandskämpfer, der ohne Kopf hat begraben werden müssen, ist posthum 1912 entstanden. An ihr hat der Autor bis zuletzt während seiner letzten Kaukasus-Reise gearbeitet. Gerüchtehalber ist Tolstoi ja in den Kaukasus gezogen, um darin zu sterben.

Zwischen diesen beiden biographischen Rand-Erzählungen sind noch „Der Holzschlag“ (1855), „Die Kosaken“ (1863) und „Der Gefangene im Kaukasus“ (1872) abgedruckt. Der Inhalt braucht hier nicht erzählt zu werden, er ist tausendfach in den diversen Lesebüchern aufgeschlüsselt.

Bemerkenswert ist aber die Frische, mit der die von Rosemarie Tietze neu übersetzten Geschichten vor dem Leser auftauchen. Klar und wild wie Kleist, ist so der erste Eindruck. Es bleibt erkennbar, dass es eine Übersetzung ist, aber gerade dieser Übersetzereffekt macht einen Text oft klarer, als wenn er gleich auf deutsch geschrieben wäre, wir kennen das von vielen amerikanischen Texten, die hauptsächlich deshalb magisch sind, weil es sich um eine Übersetzung handelt.

Diese schönen Bilder des Kaukasus bewirken freilich eine Mystifizierung oder Veredelung, die den Bewohnern nicht gerecht wird. Der staatstragende Tolstoi poetisiert natürlich die Kriege, weil er ja die diversen Psychen der Beteiligten ins Heroische dreht und dabei den banal-historischen Aspekt verdreht, dass es nämlich um eine systemische Unterwerfung der Gebirgsseele unter das Russische geht. Dabei spielt ja auch die Psyche des Autors eine nicht zu unterschätzende Rolle. In der ersten Phase versucht er als Abenteurer und adeliger Taugenichts im Krieg festen Halt für seine schwache Seele zu finden, in der Schlussphase versucht er im Gebirgsgewirr seine Seele ordnungsgemäß aufzulösen.

Als Leser ist man vor allem abgetreten wegen der schönen Literatur. Wenn man sich eine Auszeit von politischen oder literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen nimmt, kann man in diesen fünf Kaukasus-Erzählungen hemmungslos versinken. Schön sind sie, aus einer anderen Zeit, voller Poesie und Kraft.

Und nach der Lektüre kommt man auf dem Spaziergang, der einem als modernen Lese-Adeligen zusteht, am Tschetschenen-Block vorbei, und alles ist plötzlich wieder ganz anders. Diese Geschichte lässt sich dann auch durch eine gute Übersetzung nicht verbessern.

Lew Tolstoi, Krieg im Kaukasus. Die kaukasische Prosa, neu übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, 589 Seiten, 28,80 €, ISBN 978-3-518-42836-8

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Lew Tolstoi, Krieg im Kaukasus
Wikipedia: Lew Tolstoi

 

Helmuth Schönauer, 15-12-2018

Bibliographie

AutorIn

Lew Tolstoi

Buchtitel

Krieg im Kaukasus. Die kaukasische Prosa

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Rosemarie Tietze

Seitenzahl

589

Preis in EUR

28,80

ISBN

978-3-518-42836-8

Kurzbiographie AutorIn

Lew Tolstoi, 1828-1910, ist ein russischer Giga-Dichter.