Leopold Federmair, Parasiten des 21. Jahrhunderts

leopold federmair, parasitenParasiten sind Spezialisten, die im Kampf um Ressourcen eine Abkürzung nehmen. Oft wird dabei die Fresslinie Wirt-Zwischenwirt-Verbraucher eingehalten. Der Begriff Parasiten lässt sich aber in so gut wie allen Bedeutungsfeldern ausstreuen und anwenden. Wegen seiner Anwendung durch die Nazis im gesellschaftlichen Kontext hat er seine Unschuld verloren und gilt als Achtung!-Wort, bei dessen Anwendung es ,aufpassen‘ heißt.

Leopold Federmair setzt die Parasiten in vier Essais aus. Die Schreibweise Essai ist eine Würdigung an Montaigne, der als Schöpfer eines Genres gilt, bei dem objektive Wissensinseln mit subjektiven Reiserouten angesteuert und neu verbunden werden.

Das Thema wird in der Sammlung unter vier Blickwinkeln betrachtet: Parasiten als Künstler und kreative Überlebensperformer / Parasiten als künstliche Intelligenz / Parasiten im Erlebnisfeld Migration / Parasiten als Folgeerscheinung des Neoliberalismus.

Hinter diesen Primärschlagzeilen liegt der Hinweis, dass „beide Welten“ angesprochen werden sollen. Damit sind je nach Aufsatz die Dichotomien analog-digital, östliche-westliche Welt, Aufbruch-Ankunft, Kunst versus künstliche Intelligenz gemeint.

Im „Lob des Parasiten“ (11) wird der südkoreanische Film „Parasite“ gefeiert, der als Sozialdrama zeigt, wie Außenseiter sich zuerst durch Anpassung in die herrschende Klasse hineinzwängen, durch Imitation und Mutation deren Lebensform sprengen und am Schluss die Herrschaft übernehmen. Das Parasitentum erweist sich dabei als Kunst- und Lebensform, die sich letztlich durchsetzt.

Unter „Ironie off!“ (17) sind eine Handvoll Kleinessays zu diversen Auswüchsen der Digitalisierung und deren Auswirkung auf das Individuum zusammengelegt. Die mangelnde Ironie zieht sich durch alle Anwendungen und Apps und bewirkt so etwas wie eine anthropologische Mutation (34). Unmittelbar lässt sich dieser Mangel an Wahrnehmungsnuancen auf simplen sozialen Medien aufspüren. Im Netz ist keine Ironie möglich, weil es dafür ein Bewusstsein geben müsste. Die Digitalisierung hat freilich die Aufgabe, dem Menschen alles zu erleichtern und abzunehmen, letztlich auch das Denken und das damit einhergehende Bewusstsein.

Erlebnisse aus dem Universitätsbetrieb in Japan und in Europa bestätigen jene Brüche, die den Menschen in „beiden Welten“ zu schaffen machen: Dauerberieselung durch Fernsehen und Netz, Deautonomisierung, Vernichtung jeglicher Neugierde. Früher war Neugierde die Grundvoraussetzung, um auf die Uni zu gehen, heute geht es um die digitale Abwicklung eines Bachelor to go. Es ist auch keine Neugierde auf Zusammenhänge mehr notwendig, da man im Bedarfsfall völlig geschichtslos den einzelnen Wikipedia-Eintrag abrufen kann. Dieser passt dann in jeden Zusammenhang und hat immer recht, sodass sich jeder Diskurs erübrigt.

Das Parasitäre liegt darin, dass diese Einzelteile die Herrschaft über den wissenden Wirt übernommen haben. Der allgegenwärtige Algorithmus im Netz versteht die Menschen längst besser, als deren nächste Angehörige es tun. „Wer surft, kritisiert nicht!“ (144) lautet der passende Eintrag.

Wenn Apps etwa das aufwändige Aufschreiben japanischer Schriftzeichen digital beschleunigen, heißt das in der Folge, dass auch die Geschwindigkeit beim Verfassen von Gedanken steigt, mit der Auswirkung, dass aus Sätzen, Zeichen und Zeit nur mehr eine Anhäufung von Begriffen übrig bleibt. Das Lesen als Kulturform verliert sein Fundament.

Der fast zweihundert Seiten lange Hauptessay befasst sich in mäandernden Schleifen mit der Lochkarte bei Ernst Jünger oder der Gleichzeitigkeit in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Die Hauptbotschaft dieser Denkleistung liegt in einem Zeitgeschenk. Der Leser wird während des Ironie-off-Kapitels langsam und verlässt den Text zwischendurch, um in eigenen Gedankengängen eine „Verlängerung“ zu setzen. Abkürzen wäre das Letzte, was dieser Essay vertrüge!

Im dritten Teil sind „Flüchtlingsgespräche in Oberösterreich“ (241) transkribiert und subjektiv wahrgenommen. Die einzelnen Schicksale treffen auf eine brüchige Fassade der sogenannten Wirtskultur. Im Sinne des eingangs zitierten Films kommen Strategien zum Vorschein, wie man mit dem Wissen aus dem Herkunftsort sich im Ankunftsort zurechtfinden kann. Dabei werden erstaunliche Kräfte der Intelligenz und Kreativität frei.

Der Text „Gräuel der Gegenwart“ (299) fußt auf einem Erlebnis am Arbeitsamt, das den Autor verstört, als er nach Jahren an einer Uni in Japan zurückkommt und erfahren muss, dass er überflüssig ist. Bei genauerem Nachdenken kommt er auf eine Spur, die stracks in den Neoliberalismus führt. Anhand einer saftigen Kritik der dafür zuständigen Publikation wird Viviane Forresters „L’horreur économique“ widerlegt. Wie Moses mit seinen Gesetzestafeln formuliert der Autor abschließend drei Sätze für das Grundgesetz.

„Kein Mensch muss sich um die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse sorgen.“ / „Jeder hat die Pflicht, von seiner Freiheit seinen Wünschen und Fähigkeiten gemäß Gebrauch zu machen.“ / „Die angeborene Neugier darf unter keinen Umständen gebremst werden!“

Diese Sätze sind offensichtlich lange vor einer Zeit geschrieben, in welcher Impf-Kontras durch die Gassen stürmen und Wortfetzen im Nominalstil rufen.

Leopold Federmair, Parasiten des 21. Jahrhunderts. Essais aus beiden Welten
Salzburg: Otto Müller Verlag 2021, 359 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-7013-1289-4

 

Weiterführende Links:
Otto Müller Verlag: Leopold Federmair, Parasiten des 21. Jahrhunderts
Wikipedia: Leopold Federmair

 

Helmuth Schönauer, 17-12-2021

Bibliographie

AutorIn

Leopold Federmair

Buchtitel

Parasiten des 21. Jahrhunderts. Essais aus beiden Welten

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Otto Müller Verlag

Seitenzahl

359

Preis in EUR

26,00

ISBN

978-3-7013-1289-4

Kurzbiographie AutorIn

Leopold Federmair, geb. 1957 in OÖ, lebt in Hiroshima.