Michel Jean, Kukum

michel jean, kukumWenn man die großen Erzählungen von Mutter Erde auf sich einwirken lässt, so sind die Geschichten oft wie das eigene Leben aufgebaut. Viele von uns haben eine unversehrte Kindheit, eine jähe Aufbruchsstimmung und das Desaster von Habgier und Wachstum erlebt, ehe wir jetzt alt und kaputt auf die Erde schauen und seufzen, dass wir deren Untergang gerade nicht mehr erleben werden.

Die meisten unserer Jahrgänge haben das Lesen gelernt mit scheinbar unversehrten Geschichten von Robinson Crusoe oder Lederstrumpf. Wir Leser mussten alt werden, um nachzulesen, wie die Geschichte von der Eroberung und Verwüstung der Natur wirklich erzählt werden muss.

Michel Jean ist einer der wenigen Schriftsteller der Innu-Kultur auf kanadischem Staatsgebiet. Aus Interviews mit seiner damals fast hundertjährigen Urgroßmutter Almanda Siméon und eingeflochtenen Originalerzählungen transkribiert er ihre Biographie, die von mühsamer Emanzipation, Kampf gegen Kolonisierung, und Verlust einer Kultur gekennzeichnet ist. Berührende Szenen aus einer Kindheit, ein Leben mit der Natur, globaler Raubbau und Aufgabe der Innu-Lebensweise vermitteln als konkretes Beispiel das Desaster, worin die heißgelaufene Erde als Ganzes zu Ende geht.

Die Geschichten sind als mündliche Kultur ausgelegt, dabei steht eine eigene Sprache im Mittelpunkt, die der Autor selbst aktiv nicht mehr spricht.

„Es gibt keine Orthographie und keine Linguisten, die die Bedeutung analysieren. Es gibt kein Femininum und kein Maskulinum. Man unterscheidet zwischen belebt und unbelebt. Anfänglich stolperte ich ständig und kam trotz aller Bemühungen nicht zurecht. Dann begriff ich, dass es sich nicht um eine andere Sprache handelt, sondern um eine vom Französischen verschiedene Art des Kommunizierens. Es ist eine Art von Sprache, die an eine Welt angepasst ist, in der die Jagd und die Jahreszeiten den Rhythmus des Lebens diktieren. Die Reihenfolge der Wörter hat nicht die gleiche Bedeutung wie im Französischen. Sie variiert je nach den Umstanden.“ (61)

So beschreibt die „Kukum“ in der Rückschau, wie sie als adoptiertes Kind Onkel und Tante verlassen hat und mit dem Innu Thomas in den Wald gezogen ist. Die neue Verwandtschaft lebt autark und wird zunehmend von expandierenden Holzschlägerfirmen und Bergbaukonsortien bedrängt. Der Bau einer Eisenbahn gibt diesem Leben den Rest.

„Sie wollen mein Haus abreißen?“ / „Wir werden Sie natürlich entschädigen, Madame.“ / „Nein.“ / „Wie, nein? Das ist keine Frage. Die Strecke ist bereits beschlossen.“ (165)

Dieser knappe Dialog zeigt die Kolonisierung in vier Sätzen, ähnlich knapp sind auch die Urkunden verfasst, die die Enteignung bezeugen.

Almanda wird in der Natur schwanger, ihr Mann ist wie in einem Schöpfungsbericht nur biologischer Zeitzeuge, in Wirklichkeit kommt alles aus Mutter Erde. Das zweite Kind stirbt kurz nach der Geburt und wird unter einem besonders schönen Ahorn begraben, damit es weiterwachsen kann.

Die Veränderungen sind nicht mehr aufzuhalten. Die Einheimischen werden in Reservaten zusammengefasst, wobei nie klar ist, wer nun was ist. Als von Weißen adoptiertes Kind mit irischen Wurzeln wird Almanda eine Außenseiterin der Innu-Kultur, wiewohl sie deren Vorkämpferin ist. Einmal fährt sie auf gut Glück in die Stadt zum Ministerpräsidenten, der sie nach einer Woche tatsächlich empfängt. Er zuckt die Achseln und schickt die Petentin wieder in den Wald zurück.

Dort kriegen sie einen Gehsteig, damit sie nicht bei Regen im Letten herumwaten müssen. Aber die Weißen fahren ungeniert im Reservat herum und töten angesoffen die Kinder mit ihrer exzentrischen Fahrweise. Die Einheimischen geben auf und versinken im Alkohol. Die Kinder nimmt man ihnen weg und steckt sie in Klosterschulen.

Erst spät gelingt es „Kukum“ mit ihrer Lebenserzählung, auf das Unglück vor der Haustüre der Zivilisation hinzuweisen.

Michel Jeans Roman erzählt gewissermaßen Robinson Crusoe aus der weiblichen Sicht, statt des Einzelkämpfers, der sich die Natur untertan macht, sind es weit entfernt formulierte Gesetze, die eine ganze Lebensform ausrotten.

Der Roman ist durchgehend mit Fußnoten ausgestattet, die ihrerseits „volkskundliche“ Erzählungen sind. Während man als Leser die bisherigen in der Kindheit eingelesenen Bilder von der Natur neu überschreibt, liest man am unteren Seitenrand immer ein Fachbuch über Kolonisierung in Kanada mit.

„Kukum“ geht nahe, weil es ein Stück von unserer nachgeträumten Kindheit zerstört und uns pünktlich zur Zerstörung der Welt aufweckt.

Michel Jean, Kukum. Roman, a. d. Franz. von Michael Killisch-Horn [Orig. Kukum, Montréal 2019]
Klagenfurt: Wieser Verlag 2021, 211 Seiten, 21,00 €, ISBN 978-3-99029-470-3

 

Weiterführende Links:
Wieser Verlag: Michel Jean, Kukum
Wikipedia: Michel Jean

 

Helmuth Schönauer. 06-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Michel Jean

Buchtitel

Kukum

Originaltitel

Kukum

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Wieser Verlag

Übersetzung

Michael Killisch-Horn

Seitenzahl

211

Preis in EUR

21,00

ISBN

978-3-99029-470-3

Kurzbiographie AutorIn

Michel Jean, geb. 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac Saint-Jean (Québec).

Michael Killisch-Horn, geb. 1954 in Bremen, lebt als freier Übersetzer in München.