Tom Zürcher, Liebe Rock

tom zürcher, liebe rockDer gute Dichter textet alles, was das Leben von ihm verlangt. Tom Zürcher hat diese literarische Hauptaussage vorsorglich in die eigene Biographie verlagert. Dort ist sie auch dann noch von Nutzen, wenn sich ein Buch mit all seinen Weisheiten nicht am Literaturmarkt bewähren sollte. Und diese literarische Programmatik bringt zudem den gegenwärtigen Literaturbetrieb auf den Punkt.

Im Sinne der Postmoderne muss der Leser mitmachen und die finale Ordnung der Lektüre besorgen, der Autor bringt das Knowhow aus der Szene der Literaturhäuser und Schreibwerkstätten mit, und die überschaubar wenigen Figuren sind aus den Verlagskatalogen abgeschrieben, wo sie die Felder Kindheit, Erziehung, Liebe, Hund, Behinderung abdecken. Und es gibt keinen Unterschied zwischen der schreibenden Figur, dem Leser und dem abgedruckten Portfolio an Handlungen und Gesprächen.

Der Roman „Liebe Rock“ exekutiert die drei wichtigsten Dogmen einer Schreibwerkstatt:

# Bau einen guten Titel!
# Sag, dass du Schriftsteller bist!
# Mach deinen Text aus Allerweltssätzen, die auch der Leser so sagen könnte!

Der Roman startet mit dem berühmt guten ersten Satz, der als Kalenderspruch überleben sollte. „Wenn du das hier liest, bin ich tot.“ Da es sich um einen Countdown-Roman handelt, werden die Kapitel von hundert bis auf null heruntergezählt, der erste Satz kommt also noch einmal am Schluss aufs Papier, wo er dann ja der erste Satz ist.

Dieses Rückwärtserzählen fesselt ungemein wie ein Raketenstart, dabei wird nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit ins Spiel gebracht: Wer zu früh mit dem Schreiben beginnt, scheitert, und ist dafür länger tot.

Im grotesken Plot wirft Timm kurz vor der Matura das Handtuch und wird Schriftsteller. Als Ausweis trägt er ein Wachstuchheft mit sich, in dem meistens nichts drin steht. Aus den Barbesuchen ums Eck hat sich eine infantile Liebe zur Kellnerin Rock entwickelt, die Timm mit dem Roman bezirzen will. „Liebe Rock“ wird phasenweise zu einem Liebesbrief. Er zieht bei ihr ein, aber sie hat schon einen Freund, der gerade an seiner Diss arbeitet. Flugs wird diesem die fast fertige Arbeit geklaut und in einen Roman umgewandelt, die Zauberformel heißt Cut-Up.

Dem Dreicksverhältnis um Rock steht das literarische Dreigespann Vater, Verleger, Autor-Ich gegenüber. Vater organisiert jede Menge Geld, obwohl er selbst gerade aus dem Arbeitsprozess entfernt worden ist. Er unterstützt seinen ersten Sohn, damit er nicht drogenabhängig wird wie der zweite. Und der Verleger nimmt und nimmt und steuert gute Tipps bei, etwa die „Eins“ als Titel zu nehmen oder den ersten Satz als Geheimnis auszulegen und möglichst spät zu verraten.

Während in der modernen Beziehungskiste Tiere das Ruder übernehmen, – in diesem Fall spielt ein Hund die entscheidende Rolle, weil er regelmäßig die finale Liebeskraft der Beteiligten absaugt – , so übernehmen im modernen Literaturbetrieb Fake-News und Inszenierungen die Herrschaft. Das Buch verkauft sich mal gar nicht, dann wieder rasant, wenn es gut promotet wird, es herrscht ökonomisches Random.

Wie im Buch wechseln auch bei der Promotion sogenannte erste und zweite Realität. Während sich Timm gerade an die entscheidende Vorlesestelle herantastet, erhält er einen spontanen Anruf seiner Geliebten, das Publikum hält es für einen gelungenen Akt der Inszenierung.

Andererseits stirbt der Drogen-affine Bruder mit den gleichen Sätzen, wie es der Ich-Erzähler vorhat, freilich mit einem kleinen Unterschied:

Wenn du das hier liest, bist du tot!

Als Leser erschrickt man an dieser Stelle, es könnte ja sein, dass man selbst gemeint ist. Das Ende der Geschichte ist geglückt, sie endet nämlich bei null und die Protagonisten sind tot oder verheiratet.

Tom Zürcher erzählt schleißig-normal im Sound von Figuren, die üblicherweise am Handy Emoticons tippen, wenn sie was sagen sollen. Sein Todessatz zu Beginn und Ende des Romans geht mittlerweile um die Welt. Die schelmischen Tipps und Gags aus dem Literaturbetrieb werden von diesem eins zu eins nachgespielt.

„Liebe Rock“ erspart einem so manchen Besuch im Literaturhaus. Die Helden auf Papier sind jedenfalls logischer als jene aus der Literaturszene, wo an manchen Tagen bis unter null heruntergezählt wird. – Ein Literaturroman über das Narrentreiben von schreibenden Startups.

Tom Zürcher, Liebe Rock. Roman
Wien: Picus Verlag 2021, 296 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7117-2110-5

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag: Tom Zürcher, Liebe Rock
Wikipedia: Tom Zürcher

 

Helmuth Schönauer, 10-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Tom Zürcher

Buchtitel

Liebe Rock

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Picus Verlag

Seitenzahl

296

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-7117-2110-5

Kurzbiographie AutorIn

Tom Zürcher, geb. 1966, lebt in Zürich. Textet alles, was das Leben von ihm verlangt.