Siljarosa Schletterer, azur ton nähe
Die verschwiegenste Lyrik wächst für Augenblicke aus dem großen Fließen heraus, wenn das abgedriftete Auge zurückschnellt, um abermals dem Verlauf des Wassers zu folgen.
Siljarosa Schletterer siedelt ihre Gedichte an einem Fluss- und Fließsystem an, „azur ton nähe“ belegen als Farbe, Musik und Innigkeit unbegleitete Wörter, die scheinbar zufällig als Flusskiesel am Ufer liegen.
Dieses Gewässersystem ist einerseits als imaginäres Netz von Lebenssubstanz über die Erde gespannt, andererseits mit GPS-Daten verortet. So wie heute bereits jedem Foto die Aufnahme-Koordinaten innewohnen, so sind die Gedichte mit konkreten Daten hinterlegt und als Überschrift gesetzt. In einem angeschwemmten Flussverzeichnis am Ende des Bandes kommen die Flüsse als Register zum Vorschein, und in diesem Fall sind die Schwerpunkte mit den Seitenzahlen des Gedichtes fixiert.
Als Hauptstränge zeigen sich Donau, Rhein und „andere Gewässer“, damit sind etwa Mittelmeer, Nordsee, Baggersee oder Fußbach gemeint. [90/91] Die Nebenflüsse klingen oft schon für sich genommen wie ein Gedicht, wenn sie als Kaiserwasser, Kamp, Tuffbach, Thaya oder Singelgracht daherkommen.
Die elf eingeflochtenen Grafiken von Franz Wassermann sind optische Dämme, luzide Biberbauten, vernebelte Schiffe oder einfach Strukturen, die an der Kante zwischen Dampf, Luft und Gestein entstehen.
Dem Titel gehorchend gliedern sich die Gedichte in die drei Aggregatzustände „azur, ton und nähe“. Ein Vergleich mit dem simultanen Auszähl-Spiel „Papier Schere Stein“ tut sich auf, worin die eine Substanz die jeweils anderen beiden ausschließt. Andererseits brauchen einander Ton, Klangfarbe und Dichte, um als Ganzes gefühlt zu werden.
„azur“: (6) Die wesentlichen Partikel tauchen aus der Fließbewegung auf und lassen oft nur zwei drei Wörter erkennen, ehe sie in der nächsten Wasserwalze verschwinden. „jeder fluss hat eine seele“ ; „die gefahr der ruhigen gewässer / liegt im schlummern / der dunkelsten gedanken (12); „was heute überschwemmung genannt wird, war früher ein festtag“; „manchmal zieht der regen seine rüstung an und lässt die welt zerstörung fühlen“.
Die einzelnen Lyrismen springen für sich genommen jäh in die Luft und verschwinden wieder, andererseits bilden sie Vers-Ketten, Metaphern-Cluster oder schlicht die „Biographie der Bächin“.
„ton“: (36) Aus dem Farbton Chagalls schmilzt pures Blau heraus, das sich an manchen Orten als Hör-Ton vernehmen lässt. In spontanen Sequenzen formatiert sich flüssiger Stein, der einzeln „klamm heimlich“ zusammenbricht, vielleicht auch, weil die Hände kalt und klamm geworden sind, die diesen Stein aufgehoben haben.
„bäche sprechen ihre eigene sprachen“ (49) heißt es, wenn die Botschaft dechiffriert werden soll und man nicht weiß, welches Sprachprogramm es zu wählen gilt. „was dichtung über wasser weiß, ist lichtzittern, lässt sich kaum abstecken.“
„nähe“: (54) Das Gewässersystem betritt intime Räume, selbst der Wasserhahn wird zu einem tickenden Geräusch, wenn er in die Stille nässt.
Die Nähe lässt sich schwer fassen, weil ja die Perspektive fehlt. Ein lyrisches Ich versucht das Licht einzufangen, aber das darin sitzende Gegenüber bleibt unerreicht, denn „in die grammatik der wellen malst du dein goldenes aquarell“ (68). Als Inbegriff von Nähe schimmert ein Tattoo auf, innig, intim, und dennoch von der Größe eines ganzen Ortes, der für immer mit diesem Emblem auf der Haut markiert ist.
„bleib / meintest du / bleib dir treu // zum abschied“ (83)
Das Gefühls- und Gewässernetz ist perfekt im Layout gespiegelt. Die einzelnen Gedichte brechen zuerst als versteckte Quelle auf, geben sich Koordinaten und springen dann in Gestalt abgeflachter Steine über die Wellen, die zwischen den Zeilen schäumen. Gerade als alles an seinem Ort vertäut zu sein scheint, tut sich das letzte Kapitel auf: „Sonderkoordinaten“ (84).
Wenn das „klassische Buch“ zu Ende gelesen ist, präsentiert sich ein geheimnisvoller QR-Code, der eindringlich wie in einem Märchen darum bittet, aufgesperrt zu werden.
Und tatsächlich, es eröffnet sich das „versteckte Kapitel“. Sogenannte Sonderkoordinaten greifen noch einmal auf alle Sinne zu und zeigen eine Bildergalerie, werfen Töne an, stellen ein Hörbuch vor und münden in der Erkenntnis: „Manche Kapitel sind fluide und erfinden sich immer wieder neu.“ In einem neuen Leseansatz quillt noch einmal dieses „azur ton nähe“ auf, diesmal liest man bereits als Insider mit, denn nur Eingeweihte dürfen den Anhang hinter dem Code betreten.
Siljarosa Schletterer vernetzt raffiniert die einzelnen Fließströme mit lyrischen Aussichtspunkten, ihre Gedichte sprechen mannigfaltig die Sinne an, und selbst das Medium des Drucks wird aufgebrochen und neu entdeckt, wenn die Buchstaben mit Hilfe des digitalen Netzes über den verwischten Bildern frisch ausgegossen werden.
Siljarosa Schletterer, azur ton nähe. Gedichte, mit Bildern von Franz Wassermann
Innsbruck: Limbus Verlag 2022, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-220-1
Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Siljarosa Schletterer, azur ton nähe
Homepage: Siljarosa Schletterer
Helmuth Schönauer, 13-06-2022