Arnold Mario Dall’O, Mein Handatlas

arnold dall'o, mein handatlasÄhnlich dem Rechenschieber und dem Schwindel-Wörterbuch für die Schularbeit ist der Atlas ein didaktisches Erinnerungsstück, das von einer Welt berichtet, als die Dinge noch zum Angreifen waren, so weit weg sie auch sein mochten.

Arnold Mario Dall’O hat als Graphik-Künstler Zugang zu den bedeutendsten Atlanten der Welt, ein paar hat er in seiner Selchkammer für Piktogramme gelagert. Manchmal blättert er in den Schätzen, manchmal riecht er auch nur daran. Jedenfalls entsteht schon beim leisesten Öffnen eines Atlas vollkommene Inspiration.

Anlässlich der kontinentalen Quarantäne während der Pandemie hat der Künstler das Projekt „Handatlas“ verwirklicht. Dabei geht es um die Frage, was die hundert interessantesten Dinge und Aktionen sind, die man in einem Atlas eintragen und so der Nachwelt erhalten könnte. Der Handatlas wird zu einem persönlichen Hausbuch, worin die gesamte Welt „verzeichnet“ ist.

Dabei werden die Ereignisse dreifach gespeichert, einmal als blasse Navigationsgraphik, worin der Ort des Geschehnisses mit einem schwarzen Punkt im jeweiligen Kontinent verankert ist, als nummerierte Kleingeschichte und schließlich als Graphik, die über einer „Stielerschen Atlas-Seite“ aus dem Jahr 1906 ausgebreitet ist.

Im Vorwort ist das Konzept erklärt. Durch die graphische Veredelung wird der Gebrauchsgegenstand des Navigierens zu einem Kunstwerk und Unikat. Der praktische Nutzen liegt nun darin, dass man mit dem Handatlas aus der Pandemie hinaussteuern kann in eine ungewisse Zukunft.

Auswahl und Reihenfolge der hundert Geschichten erzählen ein Miniaturepos, wie es gleichzeitig mit mannigfaltigen Helden und Taten geschehen könnte.

In einer knappen Abfolge sind die Themen Gartenzwerg, Braunau und Mitläufer Herr Karl zueinander in Beziehung gesetzt. Der Gartenzwerg (8) ist vermutlich das erste ästhetische Konstrukt, das die vielen Landesteile zu einem deutschen Reich zusammenwachsen lässt. Gerade durch die Miniaturausführung des biederen Geschmacks soll die Angst vor dem großen politischen Monstrum „Reich“ genommen werden. Auf dieses setzt später ein österreichischer Export aus Braunau (11), der sich vor allem die Frage gefallen lassen muss, warum ist aus Schiele ein Genie und aus Hitler ein Diktator geworden. Beide hatten etwa gleichzeitig ungute Erfahrungen mit der Malerschule, der eine war über-, der andere unterqualifiziert. Und der Parademitläufer „Herr Karl“ (16) rundet diese Reichsidee ab, indem er nicht nur zum Lachen in den Keller geht, sondern um im blauen Dunst des Heurigen die dumpfe Wahrheit eines angepassten Besserwissers kundzutun.

Ähnliche Geschichtsblöcke lassen sich als User persönlich zusammenstellen, wenn man beispielsweise die aufregenden Erscheinungen der Zeit zueinander in Beziehung setzt.

So erzählt die Parkuhr (25) von einer Eigenschaft vergangener Motorisierung, dass man nämlich die gewonnene Zeit beim Autofahren durch die Gebühr beim Parken wieder verliert. Als eine Art Körperparkuhr fungiert schon seit Jahrhunderten der Wecker (38), der jeden Tag anläutet, wie viel es geschlagen hat. Und die Zeit als puren Zeitgeist zu verwalten ist die Aufgabe von Influencerinnen (58), die jeden Tag etwas Neues ins Netz stellen müssen, um den Fortschritt der Gesellschaft hinein in den Nonsens zu dokumentieren.

Extreme Entgleisungen könnte man eine Serie nennen, wo Tschernobyl (46) in die Luft fliegt, die Salzseen in Kasachstan den Geist aufgeben und austrocknen, und schließlich Fitzcarraldo (97) die Bodenhaftung verliert, indem er seinen Dampfer über das Gebirge zieht wie ein Sinn-verlorener Noah.

Und die Südtiroler Geschichte lässt sich an allen Ecken und Enden ausmachen, wenn man großzügig im Wegschauen und korrekt beim Atlasschauen ist: Die Messner-Brüder überziehen den fernen Himalaya mit einer Tragödie, und ihre Geschichte wird bereits ähnlich mysteriös erzählt wie die Artussage. Der Wolf hingegen vermehrt sich in Südtirol, obwohl er in Tasmanien ausgerottet worden ist und dort seither wehmütig besungen wird. Und die sogenannte Rattenlinie (100), eine Fluchtroute der Nazis quer durch Südtirol hinunter zum Vatikan und später hinauf zu Gott ist der geheime Ho-Chi-Minh-Pfad der Südtiroler.

Machen es die Atlasblätter, die bei längerer Betrachtung zu wummern und zu phantasieren anfangen, machen es die geographischen Verknotungen der Geschichten mit schweren Ankerketten der Illusion, oder sind es die knappen Erzählungen des Autors, die das Schwungrad der Fiktion antreiben – der Lese-Genuss ist plastisch, realistisch und anregend.

Arnold Mario Dall’O schafft es, aus plan ausgelegten Blättern ein Gebirge von Abenteuern herauszustülpen.

Arnold Mario Dall’O, Mein Handatlas. 100 Bilder & Geschichten. Wie ich mir die Welt erkläre, unter Verwendung der Karten von Stielers Hand-Atlas 1906
Bozen, Wien: folio Verlag 2022, 410 Seiten, 28,00 €, ISBN 978-3-85256-853-9

 

Weiterführender Link:
Folio Verlag: Arnold Mario Dall’O, Mein Handatlas. 100 Bilder & Geschichten

 

Helmuth Schönauer, 23-07-2022

Bibliographie

AutorIn

Arnold Mario Dall’O

Buchtitel

Mein Handatlas. 100 Bilder & Geschichten

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Folio Verlag

Seitenzahl

410

Preis in EUR

28,00

ISBN

978-3-85256-853-9

Kurzbiographie AutorIn

Arnold Mario Dall’O, geb. 1960 in Bozen, lebt in Meran. Für den Folio Verlag gestaltet er die Cover der literarischen Titel.