Jean Clair, Das Letzte der Dinge

Buch-CoverHa, das muss man sich plastisch vorstellen: In der Neuen Galerie am Landesmuseum Johanneum in Graz hält 2003 vor erlauchtem Kunstpublikum Jean Clair einen Vortrag über den großen Ekel, und eine der Hauptthesen dabei lautet: Scheiße ist für das Kunstwerk schwer formbar, weil sie ständig ins Amorphe zerfällt!

Schade, dass wir vom erlauchten Publikum nichts wissen, aber der Vortrag ist sehr edel, trotz seiner beschissenen Materie. In der Ästhetik des Sterkoralen wird wie in der Philosophie üblich auf die griechischen Urformen zurückgegriffen, wonach Parmenides behauptet, dass es für Haar und Dreck keine Idee gebe. In Dantes Inferno gibt es die schöne Stelle:

Dort standen wir, und drunten im Graben / Da sah ich Leute eingetaucht im Kote, / Der schien geschöpft aus menschlichen Aborten. / Und während meine Augen drunten forschten, / Erschien ein Kopf, der so vom Kote triefte, / Dass man nicht sah, ob geistlich oder weltlich.

Warum sind die federführenden Galerien voll mit solcher Kunst? Warum hat die Kunst, die bis zum Fin de Siecle vor allem dazu diente, das Auge zu erfreuen, plötzlich das Degoutante im Auge? Der Autor führt die Theorien von Dali, Cezanne, Beuys und Bataille vor, "ruinieren statt urinieren", heißt etwa die Parole Duchamps, "Farbe ist wie Scheiße, man kann sie riechen, aber nicht erklären", sagt Cezanne.

Weitere Stationen dieses Geruchsparcours sind die Wiener Aktionisten mit Muehl und Brus. Einsamer Höhepunkt dieser Reliquienkultur ist Manzonis Merda d?artista, eine in einer Auflage von 90 Stück eingeschweißte Exkrementenserie, die mittlerweile wertvoller ist als Gold, eine Dose kostet zwischen 25.000 und 30.000 Dollar.

Makaber wohl auch der Hinweis im Film Shoah auf die Ermunterung von SSlern an Häftlinge, beim Ausgraben von Leichen nicht an Körper zu denken sondern an Dreck. Gegen Ende des Vortrags geht es dann um das Unsagbare, um jenen Ort, wo die Existenz in Tod, Verwesung, Unwägbarkeit und Ungreifbarkeit unter den Händen zerrinnt.

Ganz wittgensteinisch der Schluss:

Was bliebe noch zu sagen, wo Wort und Sinn verstummt. (88)

Jean Clairs Ausflug ins Reich des Ekels zu den letzten Dingen ist ein wunderbarer Erleuchtungserguss, der diametral entgegengesetzt zum Stoff abläuft. Die Scheiße ist ein großes Thema, heißt es nicht umsonst in der wirklich guten Literatur.

Jean Clair, Das Letzte der Dinge oder Die Zeit des großen Ekels. Ästhetik des Sterkoralen. A. d. Französ. von Maria Nievoll.
Wien: Passagen Verlag 2004. 94 Seiten. EUR 14,-. ISBN 3-85165-632-8.

 

Helmuth Schönauer, 30-12-2004

Bibliographie

AutorIn

Jean Clair

Buchtitel

Das Letzte der Dinge oder Die Zeit des großen Ekels. Ästhetik des Sterkoralen.

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

Passagen Verlag

Übersetzung

Maria Nievoll

Seitenzahl

94

Preis in EUR

EUR 14,-

ISBN

3-85165-632-8

Kurzbiographie AutorIn

Jean Clair, geb. 1940, ist Direktor des Picasso Museums in Paris.