Jörg Reinhardt, Zeitlupenwege

jörg reinhardt, zeitlupenwegeWenn etwas für wichtig gehalten wird und eine Szene für die Wahrheitsfindung enträtselt werden soll, ist die Zeitlupe seit den Anfängen des Films eine gute Methode, der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen. Das gilt für forensische Abläufe oder Schadensmeldungen genauso wie für Lyrik, wo ja auch der pure Ablauf der Zeit in Poesie verwandelt werden kann, indem man eine Story verlangsamt oder eine Sequenz herunterfährt bis nahe an ein Standbild.

Jörg Reinhardt umschreibt das programmatische Gedicht zu diesem Vorgang mit „Zeitlupenwege“ (157), am Cover ist dieser Begriff zudem zu einem Dreizeiler aufgerüstet: Zeit Lupen Wege. In diesem Begriffsgedicht laufen Chronik, Dimension und Distanz zu einer Kürzest-Theorie zusammen, die einen Text vom Ersteintrag als Notiz an bis hin zu einem epischen Langgedicht betreut.

Im Layout sind die Texte stark an der Modellierung eines Gedichtes ausgerichtet, der Übergang zur Prosa ist fließend, für die Entschlüsselung der Texte mit einem am Display geschulten Blick helfen die optimierten Leerzeilen unterstützt vom Flattersatz.

Die Leiste für die knapp achtzig Textknöpfe ist in sieben Abschnitte unterteilt: Einfach so! / Über das Schreiben und … / Das passiert / Zu zweit / Und noch etwas über das Schreiben / Impressionen und Stationen / Kleine Philosophie.

Diese Gliederung verweist auf die Verquickung von Einträgen, die auf einen unmittelbaren poetischen Reflex zurückgehen, und jenen essayistischen Teilen, die diese Reflexe noch während der Niederschrift kommentieren und ihr dadurch eine Metaebene hinzufügen.

Am Beispiel der Kulturtechnik „Schreiben“ lässt sich dieser Vorgang exemplarisch ablesen.
In den „Stilfragen“ wird das lyrische Ich fundamental belehrt: „Das ist zu zerrissen, zu schwammig, / der Leser wird von da nach dort gezogen, / das ist kein Stil, sondern eine Sammlung von Einflüssen. / Das ist nicht das, was wir erwartet haben.“ (39) Von diesen Argumenten ordentlich niedergemacht, reagiert das Ich sehr prosaisch: „Ich stehe auf. Ich habe nicht damit gerechnet, / dass man Gefühl mit Stil gleichsetzt. / Erwartet habe ich nichts.“

Diese Konfrontation mit einem fiktiven Vertreter der Literaturbranche zeigt auch den Unterschied zwischen Gedichten und dem Blues, wie er in der Musik zum Einsatz kommt. Der gleiche Text schafft es oft nicht, sich an den Türhütern des Literaturbetriebes vorbeizuschlängeln ins Innere der reinen Literatur, während er es mühelos schafft, sich unterlegt mit Musik in die Herzen der Hörenden durchzuschlagen.

Letztlich macht es das Containment aus, ob sich ein Text durchsetzen darf oder ob er abgewürgt werden muss. Indem der Autor diese Kritik in die Gedichte einschmuggelt, überlistet er die vorgeblichen Spam-Filter der Literaturkritik und freut sich wie ein freches Gedicht, dem der Durchbruch in den Lyrikband gelungen ist.

Das radikal Musikalische erweist sich oft als Gratwanderung zwischen Motiven, die jäh in Geräusch umschlagen können. „Die Geräusche eines Hinterhofs / erzählen vom aussichtslosen Kampf gegen etwas, / das der Mensch nicht kennt / und dem er nur selten auf die Spur kommt.“ (46)

Ob Liebe oder Hitzewelle, Garten oder Schönheit an sich: Meist sind es ein Geräusch oder ein Luftzug, die eine Gedankenkette in Gang setzen, welche das lyrische Ich nicht mehr los wird. So wie sich ein Riff nicht unterbrechen lässt, bis es durchgespielt ist, lässt sich auch ein Gedankengang nicht abwürgen, ehe ein halbwegs brauchbares Ergebnis in Sicht ist.
Der Autor kürzt diese Gedankenmoves zwischendurch ab, indem er unerwartet eine Conclusio setzt, die im Sinne eines Sprichworts einen Sachverhalt abschließt, ob der Spruch nun passt oder nicht.

Im Kapitel „Kleine Philosophie“ sind ein paar dieser zu Ende gewürgten Gedankengänge zum Anklingen gebracht. „Du sprichst gerne von Philosophie, / wenn du einen Satz liest, / der dir klug vorkommt. / Du saugst ihn auf / und zitierst ihn ein paar Tage, / bei jeder Gelegenheit, / bis du ihn wieder vergessen hast.“ (145)

Der TÜV für jeden Gedichtband besteht schließlich in der „Vogel-Untersuchung“. Wie meistert das oberste Motiv der Lyrik, der Vogel, der sich auf den Weg zum Aussterben macht, im konkreten Fall das Rampenlicht?

Jörg Reinhardt löst diese Prüfung genial:

Langeweile // Vögel fliegen in Zeitlupe über die Häuser. / Müdes Gezwitscher ohne Melodien, gepiepst aus blassen Schnäbeln. (119)

Da ist sie wieder, die Zeitlupe, die seit dem Cover die Motive begleitet. – Mit den Worten des Autors lässt sich sagen: Die Gedichte haben die Prüfung bestanden, wenn sie den Lesern tagelang nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Jörg Reinhardt, Zeitlupenwege. Texte / Gedichte
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2022, 159 Seiten, 13,00 €, ISBN 978-3-903125-68-1

 

Weiterführender Link:
Sisyphus Verlag: Jörg Reinhardt, Zeitlupenwege

 

Helmuth Schönauer, 30-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Jörg Reinhardt

Buchtitel

Zeitlupenwege. Texte / Gedichte

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

159

Preis in EUR

13,00

ISBN

ISBN 978-3-903125-68-1

Kurzbiographie AutorIn

Jörg Reinhardt, geb. 1954, lebt in Berlin.