Reinhard Wegerth, Fast unglaublich

reinhard wegerth, fast unglaublichDie Literatur hat ja eine doppelte Aufgabe, was die Glaubwürdigkeit betrifft. Einerseits muss sie etwas schier Undenkbares wahr machen, indem es als Literatur erzählt wird, und andererseits führt sie zum Kopfschütteln, wenn das eingepasste Weltbild des Lesers durch Abweichung von der Erzählnorm zum Vibrieren gebracht wird. – Historiker sagen nicht umsonst, dass es keine erzählte Geschichte gibt, die nicht aus der „getätigten Geschichte“ resultiert oder diese induziert.

Reinhard Wegerth nimmt für seine wahren Geschichten einen „fast unglaublichen“ Standpunkt ein. Er lässt fünfzehn Episoden der jüngeren Geschichte Österreichs Revue passieren, indem er die beteiligten Gegenstände zu Helden macht. Seine Überlegung ist raffiniert: Wenn schon die Geschichte sich gewisser handelnder Personen bedient, um daraus Helden oder Unglücksraben zu machen, dann könnte man die beteiligten Gegenstände ebenfalls heroisch aufwerten und ihnen eine Stimme zukommen lassen, wie ja auch bei Kriminalfällen oft Gegenstände aus der Asservatenkammer geholt und während eines Prozesses befragt werden.

Schon die erste Story zeigt beeindruckend, wie die Sache mit dem Ding-Ich funktioniert. Ein Frachter, von dem Teile offensichtlich immer noch zerstört am Meeresgrund liegen, schüttelt heute noch den Kopf, dass er für ein Verbrechen benützt worden ist. Was wir allgemein als die Lucona-Affäre (1976) kennen, erweist sich als übermütiges Unterfangen, als ein wahrlich kleiner Österreicher einen Frachter chartert, um ein paar Tonnen Schrott hochversichert im Weltmeer zu versenken. Dass dabei auch Menschen zu Tode kommen, ist bedauerlich, aber Verbrechen hat nun einmal seinen Preis, da es ja um Geld geht.

Das kaputte Schiff zeigt hohe Moral, als es während der Untersuchungen mit den Behörden bestens zusammenarbeitet und aus den Wunden des gesprengten Rumpfes die wahren Teile des Verbrechens herausbluten lässt.

Asservate sind einfach die verlässlichsten Zeitzeugen und haben ein großes Herz für die Wahrheit. Es ist verwunderlich, dass sie in der Literaturgeschichte selten die Hauptrolle spielen dürfen.

In der Geschichte vom Nobelpreis für Elfriede Jelinek darf die Kronen Zeitung die Hauptrolle spielen. Sie erzählt ungeschminkt, dass sie von moderner Literatur gar nichts hält und von österreichischer schon gar nicht, und am schlimmsten sind Bücher, wenn sie von Frauen geschrieben sind. Alle diese Unglücke treten mit dem Nobelpreis für die österreichische Autorin plötzlich in den Vordergrund, und man kann selbst als Kronen Zeitung nicht umhin, darauf Rücksicht zu nehmen.

Die Zeitung geniert sich fast für das Redakteursteam, als sie gesteht, mit welchem plumpen Trick man die Chose für die Titelseite gemanagt hat: Man ließ den Nobelpreis einfach patriotisch einer gebürtigen Steirerin zukommen, hoffend, dass das Publikum keine Rückschlüsse zöge auf die Tatsache, dass die Nobelpreisträgerin in Mürzzuschlag geboren ist.

Ein wahrlich geiles Erzählmedium ist das sogenannte Geilomobil, mit dem der spätere Kurzzeitkanzler Kurz in seiner Jugend durch die Wiener Innenstadt getrampt ist, um zu zeigen, dass man mit den Schwarzen die Sau herauslassen kann, wenn man sie umfärbt und einen türkisen Schal umlegt.

Ein anderes verrücktes Fahrzeug macht in den 1970er Jahren Furore, als es als „Gehzeug“ durch die Wiener Innenstadt schlendert. Das Gehzeug besteht aus einem Rahmen von den Ausmaßen eines Fahrzeugs, der um einen Fußgänger geschnallt ist, um zu zeigen, wie viel Platz man als Individuum verwenden sollte. Das Gehzeug spricht selbst von Anfeindungen, Belehrungen und spontanen Scheibenwischern, die ihm gezeigt werden, sodass bei der Lektüre auch nach Jahrzehnten noch Emotionen auftreten.

Das ist ja das Tolle an den fast unglaublichen Geschichten: Sie lösen umso mehr Emotionen aus, je mehr sie versachlicht werden.

Einer ganzen Generation ist seinerzeit der fehlende Knopfdruck als Überraschungsgast der Geschichte in die Glieder gefahren. Als das Kraftwerk Zwentendorf nämlich bis auf den Knopfdruck zur Eröffnung fertig war, musste dieser wegen einer abschlägigen Volksbefragung aus dem Faktencheck genommen werden. Selten hat ein Nichtereignis die Republik so stark berührt wie jener fehlende Knopfdruck 1978.

Eine Zeittafel wie bei einem Geschichtsbuch mit Menschen als Helden ist der Führung durch die Asservatenkammer der Geschichte beigefügt.

Sogenannte Helden sind unter anderem Knochen von Ötzi, ein aus dem Museum geklautes und vergrabenes Salzfässchen, ein Schiff am Bodensee, das überraschend umgetauft wird, sowie eine österreichische Haubitze, die allen Versprechungen zum Trotz treffsicher im Kriegsgebiet auftaucht, Jahre vor dem Ukraine-Krieg.

Reinhard Wegerth hat vielleicht nichts anderes gemacht als die Bundeshymne wörtlich genommen, indem er dem Genderstreit der Töchtersöhne aus dem Weg geht und hemmungslos über Hämmer, Lämmer und Vergangenheits-Reich erzählt. – Ein Bravourstück intellektuellen Humors.

Reinhard Wegerth, Fast unglaublich. Wahre Geschichten
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2022, 106 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-903125-70-4

 

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Reinhard Wegerth, Fast unglaublich
Wikipedia: Reinhard Wegerth

 

Helmuth Schönauer, 26-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Reinhard Wegerth

Buchtitel

Fast unglaublich. Wahre Geschichten

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

106

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-903125-70-4

Kurzbiographie AutorIn

Reinhard Wegerth, geb. 1950, lebt in Mödling.