Christian Steinbacher, Scheibenwischer mit Fransen

christian steinbacher, scheibenwischer mit fransenIm Flanieren durch Gärten, Vororte oder Rentnerareale bleibt man oft stehen und geht einen Schritt zurück, um sich etwas genauer anzusehen, das beim ersten Vorbeigehen nur als Irritation aufgefallen ist. „Scheibenwischer mit Fransen“ wäre so eine Begebenheit, an der man zuerst vorbeigeht, ehe man sich umdreht und die Fügung unter das sprachliche Okular nimmt.

Christian Steinbacher reizt mit seinen Texten die üblichen Anwendungen der Sprache aus, indem er sie scheinbar alltäglich verwendet, ihnen aber einen gewissen Drall verleiht, sodass sie als poetische Kreisel hinausdriften, weg vom untergelegten Spielbrett.

Der Titel „Scheibenwischer mit Fransen“ lässt einen innehalten, denn man hat dieses Bild in winterlichem Kontext vor Augen, wenn zugeschneite Windschutzscheiben am Morgen von herumspringenden Personen freigekratzt werden, ehe die Scheibenwischer mit Eiszapfen an den Flügeln in den Winkewinkemodus übergehen und für Ordnung beim Hinausschauen sorgen. Die Genre-Angabe „Sichtvermerke“ bestärkt die Lesenden, dass es hier vor allem ums genaue Hinschauen geht, ehe die Sachverhalte präzisiert werden. Im politischen Sinn dienen „Sichtvermerke“ vor allem dazu, streng kontrollierte Grenzen legal zu überwinden, meist von der Frage einer Uniform begleitet: Was ist der Zweck Ihrer Reise?

Die Texte Christian Steinbachers geben sich als zufällige Verdichtungen diverser Bildkomponenten aus, sie sind aber beim zweiten Hinschauen genau kalkulierte Kompositionen. Wie in der Malerei braucht es sorgfältig gesetzte Striche und Punkte, um etwas Flüchtiges wie das Wetter für einen Augenblick zu fixieren.

Das Thema für diesen Schreibprozess ist nichts Geringeres als der Ablauf eines Jahres mit seinen vier Jahreszeiten. Dabei spielt die Witterung nur den Türöffner für die Verortung der angesteuerten semantischen Schaltkreise, die am besten über Google Earth (24) angezoomt werden.

Umrahmt ist der Saisonen-Zyklus in „Schwarzweiß“ von einem Einführungskapitel für einen mysteriösen „Turban für einen Truthahn“, worin eine Art Gebrauchsanweisung für die Mousse ausgegeben ist, die über den Text streicht. Im Abschlusskapitel „Guckloch spring“ ist eine Schleuse beschrieben, durch die man geläutert und aufgeladen vom Text wieder hinausfindet in die Welt, eine Art umgedrehtes Anflugloch.

Im Zentrum treten also die vier Jahreszeiten in überzeichnetem Schwarzweiß auf. Auf jeweils vier Füßen steht ein Gerüst, in das die Vegetationszeiten eingehängt sind wie Früchte unterschiedlichen Reifegrades.

Die Begleiter des Winters sind in erster Linie die Wischblätter, die den Sehschlitz des Fahrzeuges freikratzen, im Frühling ist es ein Frosch, der das Astwerk so lange kreuzt, bis daraus fertiger Laich springen kann, im Sommer werden manche Gerätschaften feuerverzinkt, um der Witterung standzuhalten, und im Herbst schließlich darf ein kleines herbes Pesto die Gesellschaft erfreuen.

Das Textgerüst ist freistehend und in Etagen unterteilt, die an bestimmten Stellen durchlässig sind. Die „Sichtvermerke“ könnte man als Leser durchstreifen wie die Kugel den seligen Flipperautomaten. Man fällt als Leser quasi durch den Text, und wenn man wo anstreift, bimmelt es und schräge Lichter gehen an.

Die innersten Zellen dieses Gefüges sind als kleine Essays ausgestaltet, die durchaus als Eintrag in einem poetischen Lexikon dienen könnten.

Der Opener für den Winter nennt sich „Windschutzkrähe“. Mit dieser seltsamen Wortschöpfung wird an den Buchtitel angedockt, worin ja im Hintergrund der Scheibenwischer durchaus für die Windschutzscheibe einen Widerpart setzt. Die Krähe deckt gleich das in der Lyrik verpflichtende Vogelmotiv ab, die Krähe steht unprätentiös für Winterzeit. Ein lyrischer Kommentator wendet sich vom Trottoir den Spuren auf einem Autodach zu, die ein Krallentier in den Schnee geritzt hat. Okay, es könnte auch bloßer Wind gewesen sein. Oder sonst etwas, das die Spuren als Inschrift lesen lässt. In der Folge scrollt der Kommentator alle möglichen Ursachen durch, die zu Spuren auf dem Schnee eines Autodachs führen könnten.

Erst nach dieser essayistisch-poetischen Einstimmung kommt das lyrische Ich zum Zug, indem es in wacher Aufgeregtheit eine Störung kundtut – es wollte doch nur einen gemütlichen Tag verleben. Und einmal gestört geht es nun darum, die Störenfriede ausfindig zu machen. Welche Vögel sind übers Dach gehumpelt? Warum steht der Wagen im Schneegestöber? Hat er vielleicht eine Provinznummer wie jene Autos in der Kindheit, die das unversehrte Bild einer Gasse gestört haben? Könnte ein namenloses Aufsichtsorgan etwas übersehen haben, sodass es jetzt zu dieser Komposition gekommen ist, die das lyrische Ich aus der Gemütlichkeit gerissen hat?

In Kreisbewegungen um den Leser herum werden alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen, wie diese Windschutzkrähe noch einer sinnvollen Verwendung zugeführt werden könnte. Die Szene endet mit der Überlegung, dass der Volksmund eine Menge seiner Einschätzungen umformulieren müsste, wenn er statt des lyrischen Ichs auf die Winterkrähe gestoßen wäre.

Diese Sinnierformen kommen dem Flanieren sehr nahe, mal geht es zügig zum nächsten Thema voran, mal bricht eine Petitesse dem unbedachten Ablauf von Zeit das Rückgrat.

Christian Steinbacher sinniert, übertreibt, verinnerlicht, ironisiert und zerlegt dabei die vorgefassten Meinungen in Krähenfüße und Spuren im Schnee. – Ein übermütiger Schachzug der Scheibenwischer gegen fehlende Sicht.

Christian Steinbacher, Scheibenwischer mit Fransen. Sichtvermerke, mit einer Zeichnung von Miel Dalahaij
Wien: Czernin Verlag 2022, 256 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7076-0776-5

 

Weiterführende Links:
Czernin Verlag: Christian Steinbacher, Scheibenwischer mit Fransen
Wikipedia: Christian Steinbacher

 

Helmuth Schönauer, 06-12-2022

Bibliographie

AutorIn

Christian Steinbacher

Buchtitel

Scheibenwischer mit Fransen. Sichtvermerke

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Czernin Verlag

Illustration

Miel Dalahaij

Seitenzahl

256

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-7076-0776-5

Kurzbiographie AutorIn

Christian Steinbacher, geb. 1960 in Ried im Innkreis, lebt in Linz.