Wilfried Steiner, Die wilde Fahrt des Arthur Rimbaud

wilfried steiner, die wilde fahrt des arthur rimbaudEin gutes Lesebändchen ist stets aufgeregt, wenn es wo eingelegt wird. Es kommuniziert mit den Lesern und fragt stumm, warum es in welcher Reihenfolge wo eingelegt wird.

Wilfried Steiner lässt seinen Essay über ein Gedicht von Arthur Rimbaud mit einem Lesebändchen versehen, weil man stets zwischen den drei Zugängen zum Gedicht vom „trunkenen Schiff“ hin und her springen soll. Am besten, man geht die Sache von hinten her an.

Im letzten Kapitel wird in der sogenannten Rimbaud-Zeittafel (48) im Stile eines Abenteuerromans das Leben eines Autors erzählt, den man heutzutage in manchen Kreisen als Franzosen-Beatnik einstufen möchte. Als pubertierendes Kind rennt er dreimal von der Mama weg und muss von der Polizei eingefangen und zurückgebracht werden. Dann gibt es kein Halten mehr, er knüpft erste Kontakte zum literarischen Establishment in Paris, um sich gleich wieder abzuwenden. Angeblich hält er es nirgendwo länger als 14 Tage aus.

Für die Hagiographie wird der Habitus eines ruhelosen Weltreisenden besonders hervorgehoben. Er besucht Wien, Aden, Äthiopien und Java, er wird Groß- und Waffenhändler, und er stirbt qualvoll an Knie-Knochenkrebs. Die Zeittafel ist unterlegt mit markanten Zitaten, aus denen nicht genau hervorgeht, was zuerst da war: Der gute Satz? Oder die passende biographische Szene dazu?

Jedenfalls tut sich als Einstimmung auf Rimbaud im eigenen Lesekopf die Bereitschaft auf, das idealisierte Leben des anderen mit dem Trivialen des eigenen zu vergleichen. Schließlich ist das seit Jahrhunderten das Geschäftsmodell des Literaturbetriebs, ich kaufe als Leser jene Abenteuer nach, die ich mir unfiktional nicht leisten kann.

Im mittleren Teil, logischerweise Nachwort genannt, wenn man von vorne her liest, kommt Karl-Markus Gauß als Spezialist für entlegene Lebensentwürfe zu Wort. Er verweist auf zwei aufregende Romane des Wilfried Steiner, die, von der Kritik wohlwollend besprochen, kaum einen Zulauf von freiwillig Lesenden erfahren haben. Bei seiner Dissertation über „Rausch, Revolte und Resignation“ mag das ja noch verständlich sein, aber warum „Bacons Finsternis“ (2010) und „Schöne Ungeheuer“ (2022) nicht mehr Aufmerksamkeit erreicht haben, bleibt ein Geheimnis, das die These nahelegt, dass der Literaturbetrieb von einem Zufallsgenerator angetrieben wird.

Der Kern-Essay „Die wilde Fahrt des Arthur Rimbaud“ erzählt vom Feuer, das der französische Lyriker und Ahnvater von Surrealismus, Expressionismus und Symbolismus im jungen Steiner entfacht hat, obwohl dieser nur mäßige Französischkenntnisse zugibt.

Die Auseinandersetzung mit den Gedichten spitzt sich in der Lebens-Liebe zum Text „Le Bateau ivre“ zu, flapsig mit angesoffenes Boot zu übersetzen, in reiner Lyriksprache freilich als das trunkene Schiff euphemisiert. Der Dreh dieses Gedichtes liegt darin, dass das Schiff selbst aus dem Leben erzählt.

Dem jungen Fan stehen dabei vier Übersetzungen aus den Jahren 1930, 1946, 1958 und 1980 zur Verfügung, wobei die Celan-Fassung von 1958 die übertriebenste und wohl falscheste ist, wie man später erkennen kann, als der Starrummel um Celan vorbei ist.

Jede Übersetzung ist ein Kind der Zeit, sodass in Lesebüchern oft übersetzende Kinder als Großväter fungieren. In den paar hervorgehobenen Zeilen ist von Indianern und Rothäuten die Rede, es wird aber nicht thematisiert, dass diese Begriffe heute wahrscheinlich ein No-Go wären.

Die Auseinandersetzung mit dem „Bateau“ ist eine Lebensaufgabe für den Autor geworden, nach vierzig Jahren macht er sich abermals auf, um Rimbaud neu zu vermessen. Dabei wirken die fünfzig Jahre alten Übersetzungen für Steiner „steinalt“, während sich das Original immer noch sehen lassen kann, weil offensichtlich das Lesehirn darauf geschult ist, den Kontext der Entstehung mitzudenken.

Vor allem die seltsamen Reimversuche im Deutschen lassen mittlerweile selbst die größte Poesie wie „Altherren-Umtrunk“ erscheinen.

Der Gedankengang über die Krebserkrankung beginnt im Duktus von Heldenpathos, wechselt aber schon nach wenigen Zeilen in den bescheidenen Kommentar eines Menschen, der weiß, wie sich aufkeimendes Alter anfühlt.

Wilfried Steiners Essay lässt vielleicht folgende Empfehlungen für die Leserschaft zu:

  • Es lohnt sich, wenn du einen Lieblingstext hast, der dich ein Leben lang begleitet.
  • Übersetzungen sind anfälliger für die Fehltöne der Gegenwart als Originaltexte.
  • Geschichte und Literaturgeschichte sind unlogisch, aber höchst unterhaltsam.

Was geschieht mit dem Lesebändchen, wenn die Lektüre vorbei ist? fragt sich der gelernte Archivar. – Es markiert ein Stück eingefrorene Lektüre, wenn das Buch schon längst den Markt verlassen hat.

Wilfried Steiner, Die wilde Fahrt des Arthur Rimbaud. Über verschiedene Versuche, ‚Le Bateau ivre‘ zu übersetzen, Essay, Mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß
Innsbruck: Limbus Verlag 2022, 88 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-99039-225-6

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Wilfried Steiner, Die wilde Fahrt des Arthur Rimbaud
Wikipedia: Wilfried Steiner
Wikipedia: Arthur Rimbaud

 

Helmuth Schönauer, 25-12-2022

Bibliographie

AutorIn

Wilfried Steiner

Buchtitel

Die wilde Fahrt des Arthur Rimbaud. Über verschiedene Versuche, ‚Le Bateau ivre‘ zu übersetzen

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

88

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-99039-225-6

Kurzbiographie AutorIn

Wilfried Steiner, geb. 1960 in Linz, lebt in Linz.

Karl-Markus Gauß, geb. 1954 in Salzburg, lebt in Salzburg.

Arthur Rimbaud, geb. 1854 in Charleville, starb 1892 in Marseille.