Dimitri Prigow, Katja chinesisch

dimitri prigow, katja chinesischWie erzählt man ungeschoren in einem totalitären System? – Indem man Zeit, Ort und Handlung aus dem Text herausnimmt.

Dimitri Prigow relativiert als Vertreter des Konzeptualismus seine Kunst mit diversen Tricks und Taktiken. So ist das Genre „Eine fremde Erzählung“ etwas, was nichts mit ihm selbst zu tun hat, was ihm quasi selbst fremd ist, in einem fremden Land spielt, oder ihm von Fremden zugetragen worden ist. Seine Vorsichtsmaßnahmen gegenüber totalitären Systemen, die ihn ein Leben lang herausfordern, retteten ihn nicht immer vor behördlicher Nachstellung. 1986 wird er wegen einer Straßeninstallation in Moskau für ein paar Monate in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.

In „Katja chinesisch“ lautet der Ausweg aus diesem politischen Erzähldilemma: Poesie. In der chinesischen Hafenstadt Tiensin wächst das Mädchen Katja in exotischem Ambiente heran. Die Eltern sind im Zuge der Sowjetisierung als Vertreter Moskaus nach China entsandt, weshalb die Heranwachsende durch Wohlstand und Bildung privilegiert die Mythenwelt Chinas voller bunter Drachen erlebt. Der Zugang zur Welt ist ein märchenhafter, was immer geschieht, es ist ein Stück Inszenierung der sogenannten Wirklichkeit.

Der Schlüsselbegriff für diese Wahrnehmung und das Erzählen darüber lautet „Flirren“, die Dinge lösen sich in Mehrfachbilder auf, wie wenn man zu nah oder zu weit an eine Sache herangetreten wäre. Nicht konkretes Erinnern ist gefragt, sondern der kreative Akt des Erzählens, heißt es dazu im Nachwort von Christiane Körner. (324)

Die einzelnen Poesie-Sprengsel werden von zwei losen chronologischen Schnüren zusammengehalten. Einmal ist es eine zuckende Biographie der chinesischen Katja, die vor- und zurückspringt unter der Vorgabe:

Genau so sah die Erinnerung aus. (26)

Die zweite Erzählschnur gehört einem aufzeichnenden Ich, das in den 1960er Jahren in irgendeinem sowjetischen Plattenbau sitzt und im Untergrund die „fremde Erzählung verfasst“.

Mit diesem Verpackungskniff können historisch gefährliche Bausteine relativiert werden, sie werden als singuläre Ereignisse zusammengeschnürt und quasi für ein Archiv vorbereitet, in das niemand Zutritt hat.

„Das also war die berühmte japanische Invasion“, heißt es gleich einmal zu Beginn, als die Erinnerung beim Mädchen einsetzt und es schon im ersten Absatz in vage Zeitangaben vorrückt. „Es war 1944, oder 1945. Genau. 1945. Das Mädchen ist fünf Jahre alt. Nein eher vier. Also doch 1944. Es ist Krieg.“

Das Mädchen erinnert sich an Spiele, Speisen, Gewänder, sorgfältige Gespräche mit ausgewähltem Personal, und spinnt sich aus erfundenem und erlebtem Material ein eigenartiges Gewebe zusammen, wie es Kindern passiert, wenn sie unerwartet für ein Gerichtsverfahren in den Zeugenstand gerufen werden.

Womöglich ist es genauso passiert. Sogar mit ziemlicher Sicherheit. (56)

Als Leser fragt man sich, warum das Kind seine Geschichte so verschnörkelt anlegen muss, aber der Kern des Verschleierns liegt im Thema. Katja liest „Geschichten von allerhand Besiedlern“ in diversen Lehrbüchern zusammen. (102) Und das ist gefährlich. Denn es steckt die Geschichte ihres Vaters dahinter, der von der Revolution geflohen ist und mit viel Glück an die chinesische Küste gelangt ist, wo er in einem diplomatischen Zeitfenster den Posten eines Attachés annehmen konnte. (140)

„Ich beschreibe, was ich gehört habe.“ (134) Das sagt jäh der Aufschreiber im Plattenbau, wir Leser sind ihm auf den Leim gegangen, denn er ist schon die längste Zeit mit dem Duktus des Mädchens am Wort.

Das Wesen des Stalinismus muss behutsam im Text versteckt werden, man muss sich kurz fassen und sofort wieder das Gras der Geschichte darüberwachsen lassen, wenn man es in einem Anfall von Tollkühnheit ausgesprochen hat.

Im Verlaufe der Flucht des Vaters kommt es zu einer Hinrichtung, die mit kompakt- stalinistischem Vokabular erzählt wird.

„‘Gegen dich persönlich habe ich nichts. Ganz im Gegenteil, du bist mir als Mensch ganz ungemein sympathisch. Aber hier geht es um Höheres als um persönliche Beziehungen.‘ Das sagen sie und denken an etwas glorreiches Klassenabhängiges, Religiöses oder Nationales. Kurz, etwas Unvermeidliches, Unerschütterliches, fast Mystisches. / Und drücken ab. / Ja genau so.“ (150)

Nach der japanischen Invasion in China ist Katja also auf dem Weg zurück in die Sowjetunion, das sie nur aus Erzählungen kennt. In Taschkent fällt ihr auf, dass hier viel gewandert wird, während in Tiensin viel auf dem Fahrrad los war. In Irkutsk wird der Zug angehalten, und alle müssen in eine Anstalt zur Entseuchung.

Das Mädchen scheint über historische Umwege (Stalin ist tot!) nach Moskau zu kommen, denn der Erzähler berichtet, dass das Mädchen in Moskau plötzlich geheiratet hat. (218) Er braucht dieses Ereignis, weil die Verwandtschaft plötzlich aus einem englischen Zweig besteht, der in London spielt und englische Anekdoten zum besten gibt. Was sich früher in China ereignet hat, spielt jetzt in England. Dem Mädchen ist es egal, denn es ist Zeit- und Geschlechtslos, es fungiert als Medium für Erfundenes und Erträumtes. Dabei wirkt es höchst gebildet.

„Die Schule war eine kuriose Mischung zweier ideologischer Systeme, des Gesetzes Gottes und kommunistischer Prinzipien. Insofern Lehrer ein rares Gut waren, unterrichteten dort zahlreiche Emigranten.“ (260)

Gefühlte zwei Drittel der „fremden Erzählung“ spielen in einem Zug, der durch vereiste Landschaften und finstere Tunnel rast. Während der Zugfahrt geht jegliches Gefühl für Zeit und Richtung verloren. Folglich können auch die Insassen wie die Helden dieses Textes nicht verortet oder mit Koordinaten dingfest gemacht werden.

Im engsten Sinne gelesen handelt es sich bei „Katja chinesisch“ um die Verpuppung eines Kindes in der eigenen Phantasie, im weitesten Sinne um die Verpuppung Russlands im Desaster. – Von Dimitri Prigow können wir lernen, wie man einem totalitären Regime durch pure Erzählstrategie entkommt.

Dimitri Prigow, Katja chinesisch. Eine fremde Erzählung, a. d. Russ. und mit einem Nachwort von Christiane Körner [Orig.: „Katja kitajskaja“; Moskau 2013]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022 (= BS 1542), 331 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-518-22542-4

 

Weiterführenden Links:
Suhrkamp Verlag: Dimitri Prigow, Katja chinesisch
Wikipedia: Dimitri Prigow

 

Helmuth Schönauer, 08-01-2023

Bibliographie

AutorIn

Dimitri Prigow

Buchtitel

Katja chinesisch. Eine fremde Erzählung

Originaltitel

Katja kitajskaja

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

BS 1542

Übersetzung

Christiane Körner

Seitenzahl

331

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-518-22542-4

Kurzbiographie AutorIn

Dimitri Prigow, geb. 1940 in Moskau, starb 2007 in Moskau.

Christiane Körner lebt als Übersetzerin und Publizistin in Frankfurt am Main.