Eva Maria Gintsberg, schichtgedichte
Nicht umsonst rufen Piloten, wenn sie abstürzen, noch eine Wortfügung aus ferner Kindheit in den Voice-Recorder, ehe Stille dem harten Aufschlag folgt. Mit zunehmendem Alter berichten Sprachanwender verschiedenster Klangfarben davon, dass ihnen in Augenblicken der Überraschung, der Freude und des Entsetzen Partikel aus der Kindheit in den Sinn kommen.
Eva Maria Gintsberg lassen diese archaischen Wortspuren der Kindheit keine Ruhe, wenn sie als Schauspielerin und Autorin den Wurzeln des Sprechens nachgeht. Ein elementares Erlebnis als Kind in einem Tiroler Nachkriegsdorf ist das Auftauchen einer neuen Sprache, wenn „die Frembden kommen“. Diese Gebrauchssprache des Tourismus überlagert allmählich die Mundart, die bislang alles abdecken konnte, was für Hausrat, Arbeit und Feiertag notwendig gewesen ist.
„schichtgedichte“ berichten von diesen Überlagerungen der Sprache, die sich wie geographische Schichten ineinander fressen und aufwölben, die sich als soziokulturelles Milieus voneinander abgrenzen, oder schließlich in der Arbeitswelt im Schichtbetrieb als Tag und Nacht auftauchen.
Im Mittelpunkt der Gedichte stehen freilich scheinbar ausgestorbene Wörter, die von der Gebrauchssprache konserviert und eingeschlossen werden wie die berühmten Insekten im Bernstein.
Die gängige Methode, Wörtern aus vergangenen Zeiten ein Mahnmal zu setzen, verwendet Mundart in lyrisch reduzierter Form, um einen emotionalen Flash zu entladen. Dabei werden einzelne Begriffe wie aus einem Lexikon in den Mittelpunkt gestellt, besungen und anschließend meist auf der gegenüberliegenden Buchseite als Schrift-deutsche Übersetzung angeboten.
In den „schichtgedichten“ hingegen bauen sich die Gedichte als lyrische Zapfen vor den Lese- Augen auf, die Texte verlaufen scheinbar unauffällig über die Seiten, freilich ist zwischendurch eine Fügung blass gesetzt, als behutsamer Fleck, den die Druckerschwärze nur vorsichtig andeutet.
In diesen zurückgenommenen Feldern sitzen dann diese geheimnisvollen Wörter, wie sie in der Unterländer Mundart Tirols noch phasenweise als aktiver, zumindest aber passiver Wortschatz gebräuchlich sind. Die Begriffe „bloßhaxad“ für barfuß, oder „kraffi“ für Gerümpel werden vorsichtshalber als Fußnote entschlüsselt, aber diese heimeligen Wörter sind so geschmeidig in die Gedichte eingearbeitet, dass sie sich von selbst erklären.
Der Gedichtband insgesamt ist in zwei Hälften aufgeschnitten, vorne heißt es „heimat:“ (3), hinten nennt es sich „liebe:“ (45). Naturgemäß sind die beiden Teile als Ganzes zu lesen, woraus sich verschämt die Heimatliebe ergibt; aber auch die Umdrehung in Liebe-Heimat ergibt Sinn.
Diese Hauptmotiv-Kette umringt wie ein Fotoalbum die Stimmungen von Abend, Sommer, Arbeit, Spiel oder Muse, das lyrische Ich blättert in einem „Wörteralbum“ und evoziert diese Stimmungen, die einen ein Leben lang begleiten, und die manchmal als Wort-Ohrwurm einschießen.
Beim Kartenspiel dieser Gegend wird oft „ein Schöneres“ ausgerufen, dahinter steckt der verschmitzte Glaube, dass man etwas zum Besseren bewenden könne, wenn man es nur hartnäckig einfordert. Die philosophisch einwandfreie Beschreibung für einen günstigen Augenblick heißt „boisingweis“ (82), was mit „manchmal“ oder „zeitweilig“ übersetzt ist. Wer den Ausdruck freilich als Kind selbst angewendet hat, so wie der Rezensent dieser Gedichte, empfindet das Jähe, Schicksalshafte, das „bosingwais“ umschreibt. Mag sein, dass es in der Erinnerung oft bei Todkranken zur Sprache gekommen ist, denen es „boisingwais“ besser gegeangen ist, ehe sie dann umso verlässlicher gestorben sind. – Nicht umsonst ist das letzte Gedicht mit diesem Ausdruck überschrieben, darin geht es um das unerwartet Spontane, für das man sich rüstet, wenn man die Welt dreimal umarmt, jemandem einen Bären aufbindet und dann „Himmel und Hölle“ spielt als Highlight der Kindheit.
Wie bei Schichten üblich folgt auf das Helle das Dunkle, Himmel und Hölle gleichzeitig hinzukriegen, ist eine hohe Kunst. So kramt in der Erinnerung das lyrische Ich die eigene Vergangenheit als Schuldschein aus und versucht der Bürde der Eltern gerecht zu werden.
ich vertreibe den krieg meines vaters / den krieg meiner mutter kenne ich nicht. (47)
Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bricht sich eine Bahn in die eigene Sprache. „händeringend sitze ich da / warte auf die sprache / die uns verbindet“. Zwischen den Versen, die sich gegenseitig in Schach halten, blitzt dann diese winzige Fügung auf, die alles erklärt: „ois umasinst – alles umsonst“.
Die volle Entfaltung erfahren die Gedichte freilich erst, wenn man Eva Maria Gintsberg als Stimme hört, wie sie sich Schicht um Schicht an der Erinnerung abarbeitet, um sie im gleichen Atemzug für die Gegenwart aufzubauen. Über einen QR-Code am Ende des Buches gelangt man direkt ins Hörbuch.
Eva Maria Gintsberg, schichtgedichte.
Innsbruck: edition himmel 2023, (= Bäng #005), 88 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-903667-04-4
Weiterführende Links:
edition himmel: Eva Maria Gintsberg, schichtgedichte
Homepage: Eva Maria Gintsberg
Helmuth Schönauer, 02-10-2023