Friedrich Hahn, Wie ich zum Willi wurde…

friedrich hahn, wie ich zu willi wurdeDer Literaturbetrieb ist auf Krawall gebürstet und auf Events, Preise und Präsentationen ausgerichtet. In literarischen Talkshows kommen Themen mit der Halbwertszeit einer Woche zur Sprache. Und auch die Verweildauer eines Buches in der öffentlichen Wahrnehmung geht selten über eine Woche hinaus. Aber was passiert eigentlich mit Autoren und Lesern, die keine öffentliche Resonanz erfahren, außer dass sie gegendert werden?

Friedrich Hahn schreibt tapfer Jahr für Jahr seine Romane, die letztlich das eine Thema haben: Wie gestalten unauffällige Helden ihr Leben, dass es aufregend erträglich bleibt? Vor der gleichen Frage stehen die Leser, die Jahr für Jahr die Romane des Friedrich Hahn mitlesen und sich dadurch Kraft holen für ihr eigenes Leben, das sie unauffällig erträglich angelegt haben.

Im jüngsten Coup „Wie ich zum Willi wurde“ verwendet der Autor den Doppelgänger-Trick. Aus einer illuminierten Situation heraus vertauschen Erzähler Herbert und Doppelgänger Willi ihre Reisepässe. Und als der eine aus dem Gasthaus hinausgeht, wird er mit dem Reisepass des anderen von der Straßenbahn überfahren.

Jetzt ist die Situation für den Ich-Erzähler brisant. Er steht mit dem Willi-Pass quasi wie neugeboren in einer fremden sozialen Welt, nur die Stadt ist gleichgeblieben. In einem skurrilen Plot beobachtet der neue Willi das Begräbnis des Herbert mit dem Fernrohr. Der Erzähler genießt sein eigenes Begräbnis und nimmt Spuren auf zur neuen Identität.

Darin spielen zwei Frauen eine vorerst ungeklärte Rolle, die eine ist Untermieterin, die andere stammt aus dem Verlagswesen. Später taucht noch der Sohn auf, der als Diplomarbeit einen Film drehen muss und alle darin auftreten lässt, die ihm über den Weg laufen.

Die Geschichte geht überhöht kitschig zu Ende, indem der neue Willi am Grab seiner alten Identität die eine Frau heiratet, während er mit der anderen eine Lebensgemeinschaft eingeht zwecks Mietgesetz.

Über der Geschichte schwebt das permanente Suchen des Erzählers, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Er glaubt an die Kraft starker Erzählungen, die im Idealfall sich in einen einzigen Satz zusammenfassen lassen, wie in Peter Handkes „Tormann“, als im Eingangssatz Bloch knapp erfährt, dass er gekündigt und somit frei für eine neue Story sei.

Es ist schon seltsam, wie alles Bisherige weitergeht, obwohl man ein anderer ist. (22)

Mit jedem Tag wächst Willi in seine Rolle hinein, die sich durch nichts von seiner alten Geschichte unterscheidet.

Die Hauptaufgabe eines Helden Marke Willi fasst dieser lapidar zusammen. „Aus einem Alltag kann man viel, wenig, oder gar nichts machen.“ (71) Im üblichen Dreierschritt probiert er es mit Konsumtion von Gefühlen, indem er der Freundin Blumen mitbringt in der Hoffnung, dass etwas Schönes daraus wird. Im zweiten Schritt transformiert er das Leben zur Therapie. Alles, was geschieht, hat einen therapeutischen Sinn. Im dritten Versuch probiert er es mit Erkundungen, er beobachtet und registriert, was auf die Sinnesorgane einwirkt. Die Abstellkammer ist genauso aufregend wie das Einrichten einer Baustelle am Gehsteig.

Der Alltag seinerseits setzt sich aus diversen Segmenten zusammen, die nicht unbedingt zusammenpassen müssen. Eine Teilzeitarbeit als Schankbursche im Stadtkrug liefert Stoff für die polternde Welt der Trinker. Die Verlags-Tätigkeit der Freundin erweist sich als jene Schweißnaht, an der Fakts und Fiktion zusammengehalten werden. Was ist geträumt, was erlebt? Was ist Literatur, was ist Literaturbetrieb?

Die Filmwelt schließlich erhöht den Alltag zu einem Kunstereignis. Die Gespräche und Emotionen der handelnden Personen münden in ein Kunstwerk. Bald lässt sich nicht mehr sagen, machen wir was mit uns selbst oder drehen wir einen Film?

In diesem Licht ist auch die finale Hochzeit am Friedhof zu sehen, worin das Leben wie in einer Vorabendserie als Soufflé von Gefühlen inszeniert wird. Der Erzähler sagt sich völlig abgeklärt, dass er jetzt auch noch eine Hochzeit spielen kann, wenn er ohnehin schon das Leben als Doppelgänger spielt.

Überhaupt lässt sich der Willi-Roman lesen als ein Blyton-Sequal „Fünf Freunde als alte Kinder“. „Warum schreibt man nicht für einfache Leute, für Leser wie mich?“ (91) Diesen Satz muss im Film ein Kritiker sagen, der gerade entmachtet worden ist.

Friedrich Hahn stellt sich diesem filmischen Zitat, indem er er aus grauem Alltag, heraufziehendem Alter und angelesenen Alternativen einen Roman macht, der in seiner Geradlinigkeit erhellend wirkt. Wer den Alltag hinkriegt, kriegt auch das Leben hin! – Blumen, Therapie, Erkundung sind drei Heilsubstanzen hierfür.

Friedrich Hahn, Wie ich zum Willi wurde… Nachrichten aus einem anderen Leben. Roman
Maria Enzersdorf: Edition Roesner 2023, 136 Seiten, 16,90 €, ISBN 978-3-9505405-0-5

 

Weiterführende Links:
Edition Roesner: Friedrich Hahn, Wie ich zum Willi wurde…
Wikipedia: Friedrich Hahn

 

Helmuth Schönauer, 18-11-2023

Bibliographie

AutorIn

Friedrich Hahn

Buchtitel

Wie ich zum Willi wurde… Nachrichten aus einem anderen Leben

Erscheinungsort

Maria Enzersdorf

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Edition Roesner

Seitenzahl

136

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-9505405-0-5

Kurzbiographie AutorIn

Friedrich Hahn, geb. 1952 in Merkengersch / NÖ, lebt in Wien.