Kurt Drawert, Alles neigt sich zum Unverständlichen hin
Das Thema eines jeden Langgedichts ist der Atem, nur wer den sprichwörtlich langen Atem hat, kann es lesen oder schreiben.
Kurt Drawert setzt alles auf eine Karte und arrangiert „es“ zu einem Langgedicht. Der poetische Atem wird fürs erste nur unterbrochen durch die Bewegung des Umblätterns. Ein wenig später jedoch tut sich eine erste Struktur auf: In vierzehn Paragraphen wird die Materie zerteilt wie auf einem Verschiebebahnhof, um bald darauf wieder in neuer Zusammenstellung aus dem Gedächtnis-Knoten zu rollen.
Die Paragraphen sind mit Überschriften versehen, die eine vage Richtung angeben, wohin zu denken ist. „Die Würde des Menschen ist. / Das Ypsilon der Hysterie. / Anfang + Ende. / Die letzte Stunde. Vor den Spätnachrichten. / Psalmen. Gebete.“
In der Ausformung sind die Sätze wie in alten Druckstöcken zurechtgemacht für einen überspringenden Funken zwischen den Zeilen. Die Leer-Zeilen haben es in sich, sie durchkreuzen unbarmherzig den Lesefluss, indem sie sich nach jeweils drei Vollzeilen einmischen und den Text unterbrechen. Dieses erzwungene Anhalten verlangsamt die Lektüre. Wer mit dem gebräuchlichen Diagonal-Lesen oder An-den-Rand-Springen mit den Augäpfeln unterwegs ist, muss sich einbremsen, denn der Sinn geht meist über die Leerzeilen hinaus.
„Ich gehe nur noch ein + aus im eigenen Haus der Vermutung.“ „Meine Angst vor der Unsterblichkeit ist größer als vor dem Tod.“ (6)
Diese Methode des Überspringens kommt auch in der Dramatik der Motivanordnung zum Vorschein. Einmal angenommen, ein Textabschnitt zieht mit regelmäßigen Atemzügen durch die Zeit, so sind darin kleine Rituale eingelagert, die vielleicht an jedem Tag fix auftreten.
Aufwachen: „Noch gar nicht erwacht, fragt mich eine Stimme nach meiner Potenz. Weiblich vorinstalliert.“ (25)
Den Tag durchmachen: „Ich muss dringend was kaufen.“ (28)
Einschlafen: „Und auch ein Satz ist ein Rätsel. Also neigt sich, mit jeder Stunde, die ich länger wach bin, alles zum Un-/verständlichen hin. - Jetzt höre ich einfach, + für immer, mit allem auf.“ (34) Diese letzte Formel zum Tag dient auch als Buchtitel.
Die Überraschungen liegen sowohl in der Verbindung als auch in der Vereinzelung der Motive. Manches kommt als Paradoxon ins Spiel: „Am Nullpunkt stünde ich gerne. Verstand ist wie Sand in der Eieruhr.“ (84) Anderes wiederum zeigt sich als Pures Aha-Erlebnis, wenn erklärt wird, dass es das Ypsilon im Wort Hysterie ist, das die Hysterie auslöst. (16)
Ab dem letzten Drittel des Langgedichtes geht es in Richtung letzte Dinge.
Es beginnt mit dem Ausläuten des Tages durch die Spätnachrichten. Diese sind ja meist so formuliert, als gäbe es kein Morgen und als sollte mit dem katastrophenartigen Gestus der Atem zur Verlangsamung gezwungen werden. Wer von der Zuspitzung der Nachrichtenerregung herunterkommt, kommt auch mit seiner eigenen Erregung zurecht.
Plötzlich sind auch die Leerzeilen auf einen Vierzeiler-Rhythmus umgestiegen. Das Kapitel spielt jetzt in Amerika, indem „America Metaphern“ gezielt zum Klingen gebracht werden, Ölpumpen in der Wüste, achtspurige Autobahn, ein schroffes Schild in Richtung Canyon: schon sind alle Filme, die das lyrische Ich je gesehen hat, abrufbereit.
Auf der Reise durch diese Metaphern bricht auch das Ich zusammen wie bei einem Schlaganfall. Die Sprache ist gestört, ein Flügel des Rückflugs lahmt, an einer Stelle ist sogar von einem Taxi die Rede, welches das zerstörte Ich von Kalifornien aus direkt in den Odenwald zurückbringt.
Im Odenwald schließlich, ausgelegt als reifes Gelände zum Ausgeistern erfüllter Seelen, geht es in der Hauptsache um Psalmen und Gebete (142), jede andere Ausdrucksform bliebe ungehört.
„Nichtstun ist immer auch eine Handlung. Wir haben diese Möglichkeiten, keinen Schaden anzurichten. Wir müssen auf den Hasen nicht schießen.“ (156)
Den vierzehn Paragraphen sind jeweils zwei Fotos als Abschluss beigefügt. Der Autor erklärt, dass er Fotos misstraut, aber dennoch sind sie faszinierend, weil sie einen Traum von Echtheit wiedergeben. Jedes Motiv ist zweimal abgeknipst mit leichter Veränderung des Blickwinkels. So ist einmal eine Amtstafel abgelichtet, die stumm für sich allein in die Gegend glotzt. Im zweiten Blickwinkel ist sie von der Seite zu sehen, und siehe, jetzt sieht man auch ihre Botschaft: Nämlich nichts.
Für alle Zaghaften, die sich nicht mit eigenem Gemüt über dieses wunderschöne Gedicht darüber trauen, hat Kurt Drawert eine kleine Leseanleitung hinzugefügt. Darin verwendet er drei Fachbegriffe, damit auch die Fachleute wissen, wie sie das Ding, das sich zum Unverständlichen hin neigt, lesen sollen. „Syntaktisch / semantisch / als analoges Agententum.“ Die Lese-Vorschläge können auch ironisch aufgefasst sein, das Gedicht selbst bleibt eisern bei sich selbst und überzeugt.
Kurt Drawert, Alles neigt sich zum Unverständlichen hin. Gedicht, 42 Abbildungen
München: C.H. Beck Verlag 2024, 175 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-406-81379-5
Weiterführende Links:
C.H. Beck Verlag: Kurt Drawert, Alles neigt sich zum Unverständlichen hin
Wikipedia: Kurt Drawert
Helmuth Schönauer, 11-04-2024