Lydia Davis, Unsere Fremden

lydia davis, unsere fremdenDie ideale Shortstory ist ein fiktionaler Kitt zwischen zwei scheinbar realen Situationen. Sie kann folglich jederzeit an jedem Ort auftreten und verändert ihr Erscheinungsbild zusammen mit dem Plot, den sie vorgibt zu erzählen.

Lydia Davis schreibt ihre Shortstorys jeweils auf konkrete Publikationsanfragen, nach ein paar Jahren ergibt sich daraus oft ein Sammelband. Da die Geschichten nicht auf Vorrat, sondern aus Notwendigkeit geschrieben sind, erzählen sie meist ein Stück Gesellschaftskritik mit, ehe die Shortstory als Kern einer Fiktion zum Zuge kommt. Und selbst dieser Kern ist meist von einer Rahmenhandlung gehalten, die oft das Wesen der Erzählung ausmacht.

Im Text „Aushang für die Gemeinschaft: Beispiel für Redundanz“ (49) wird daran erinnert, dass es sich beim ausgehängten Text um eine Erinnerung handelt. Dabei ist der Sinn des Treffens belanglos, wichtig ist die Zusammenkunft selbst, auf die hartnäckig hingewiesen wird.

Ein ähnlicher Fall von Verknüpfung von Content und Containment ist der Streit zweier Bürgermeister (200) um die richtige Deutung des Begriffes „unrelevant“. Zwei Bürgermeister ist einer zu viel, wenn es um die Deutung der Botschaft geht!

Missverständnisse, Hörfehler, falsche Anwendung von Termini, aber auch gutgemeinte Verdunkelung von Eindeutigkeit sind ständige Begleiter in Situationen, in denen plötzlich ein Konflikt um die richtige „Deutung der Bedeutung“ ausbricht. Katze und Hund greifen als Schoß- und Haustiere ihre Situation auf und stellen sie unter den Begriff „Duldung“ (8). Sie haben diesen Begriff einmal zwanglos fallen hören und merken mit Erstaunen, dass der Status mancher Menschen oft jenen von Haustieren ähnelt. „Duldung“ ist als Grundhaltung für ein Leben im Kleinhaushalt notwendig.

Dem Firmament sagt man nach, dass man es nie in Gegenwart sehen kann, weil das Licht dafür zu lange braucht. Einer ähnlichen „Rotverschiebung“ unterliegen Nachrichten, wenn sie erst nach Jahren an die Öffentlichkeit gelangen, indem sie aus einem Archiv gehoben werden. In der Erzählung von Braut und Bräutigam (13) überfährt die Frau ihren frisch angetrauten Mann. Dieser Sachverhalt ist noch nichts Ungewöhnliches, er wird erst zu einer Shortstory, indem die erzählende Person von der langen Zeit spricht, die zwischen damals und jetzt vergangen ist. Der Plot besteht aus einem Zeitfilter, der zwischen damals und der Wahrnehmung jetzt als Erzählelement eingebaut ist.

Ähnliches passiert auch beim Betrachten von Fotos. Da ist von einem „Augenblick vor langer Zeit“ die Rede, der erzählt wird, als wäre er auf einem Foto festgehalten.

An anderer Stelle ist die Bewerbung für einen Job zu einem Flash von Konnotation verdichtet, alles hängt von der Wertigkeit einer Aktentasche ab, in der die Unterlagen stecken. Gelingt es der Aktentasche, Kompetenz auszustrahlen, sodass es zu einer Anstellung der Tascheninhaberin kommt?

Viele Erzählstrategien handeln vom Ums-Eck-Denken, wenn plötzlich neue Verbindungen unter den Ereignissen hergestellt werden. In einer Serie über Berühmtheiten und ihre Beziehungen stellt sich heraus, dass zwischen der Autorin und der Tochter von Karl Marx durchaus historischen Verknüpfungen herzustellen sind, beide sind nämlich Übersetzerinnen.

Regelmäßig sind kleine Ein- und Zweizeiler eingestreut, die sich durchaus aphoristisch geben.

„Angst vor dem Älterwerden // Mit achtundzwanzig / sehnt sie sich danach, noch einmal fünfundzwanzig zu sein.“ (25)

Wie traurig? // Wie traurig bin ich wirklich? / Nur eines meiner Augen weint. (157)

Diesen Shortest Shortstorys stehen ein Dutzend voluminöse Erzählkonstrukte gegenüber, die beinahe im Sinn eines Handbuches einen vorgegebenen Sachverhalt erläutern.

Die „Menschen in meinem Traum“ (239) lassen die Helden der Nacht bei Tageslicht auftreten, „unser Netzwerk“ (72) erstellt ein Inventar nützlicher Personen, die man sich im Laufe eines Lebens warmhalten möchte, genannt sind Steuerberater, Notar, Therapeut und andere nützliche Dienstleister, „Sorry für die Störung“ (125) erstellt einen Katalog von Mustersituationen, in denen man sich am besten mit einer Entschuldigung einführt.

Die Titelgebende Erzählung „unsere Fremden“ (99) ist als klassische Shortstory aufgebaut. Am Lande leben die Menschen wie unter Fremden. Die Häuser stehen als verlassene Burgen in der Landschaft herum, die Fenster glotzen aus sich heraus ins Leere, Bewegungen werden als Störungen wahrgenommen, und wer mit den Nachbarn zu tun hat, versucht vor allem, Streit aus dem Weg zu gehen.

Im ähnlichen Duktus ist vom un-idyllischen Landleben die Rede, wenn vor den Häusern rostige Autos stehen, die man sich selbst überlässt wie die Beziehungen zu den Nachbarn.

Im sogenannten Winterbrief an die Kids schreibt eine Erzählerin in der kalten Jahreszeit zusammen, was sich so in den letzten Monaten am Land ereignet hat. Mit einem einzigen Brief lässt sich meist das ganze Jahr hinkriegen, zumal wenn die Schlussfloskel eingehalten wird; „Alles Liebe an euch beide, auch von eurem Dad, Mutter“ (223)

Shortstorys machen sich ihren Erzählstandpunkt meist selbst, indem sie eine Sache, eine Person oder eine Stimmung in den Mittelpunkt stellen. Manchmal kommt dieses erzählende Zentrum nahe an eine autobiographische Beschreibung heran.

Im „Nachmittag einer Übersetzerin“ (42) tritt die Heldin auf dem Weg zu einer neuen Übersetzungsaufgabe in einen Hundehaufen, der den forschen Auftritt ziemlich abfedert. Als der Auftrag trotz des Malheurs zustandekommt, beruhigt sich die Übersetzerin mit shoppen, indem sie das Kaufhaus durchwühlt wie eine Vokabeldatei.

Eine Petitesse verweist schließlich auf die Tatsache, dass Lydia Davis als Siebenjährige in Graz zur Schule gegangen ist und Deutsch gelernt hat. In der Sequenz „Mein Deutsch verbessern“ (237) bemüht sich die Heldin ein Leben lang, die Sprache zu verfeinern. Aber es bleibt zu befürchten, dass dieser Wunsch zusammen mit dem Hirn abstirbt und darin verfestigt begraben wird.

Lydia Davis, Unsere Fremden. Stories. A. d. Amerikan. von Jan Wilm. [Orig.: Our Strangers, Bookshop Editions 2023]
Graz: Droschl Verlag 2024, 305 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-99059-165-9

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Lydia Davis, Unsere Fremden
Wikipedia: Lydia Davis

 

Helmuth Schönauer, 20-10-2024

Bibliographie

AutorIn

Lydia Davis

Buchtitel

Unsere Fremden. Stories

Originaltitel

Our Strangers

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2024

Verlag

Droschl Verlag

Übersetzung

Jan Wilm

Seitenzahl

305

Preis in EUR

26,00

ISBN

978-3-99059-165-9

Kurzbiographie AutorIn

Lydia Davis, geb. 1947 in Northampton / Massachusetts, lebt im Bundesstaat New York.