Sylvia Dürr, Der Buchesser

h.schoenauer - 06.06.2025

syliva dürr, der buchesserBiographien verlaufen selten geradlinig, an ihren krummen Windungen lagern sich meist unverwechselbare Begebenheiten ab. Die daraus wachsenden Shortstorys dienen in der Literatur als unverwechselbare Marker eines Lebens, ähnlich wie es für die Forensik die Fingerabdrücke sind.

Sylvia Dürr überschreibt die Titelgeschichte der dreißig Shortstorys mit „Der Buchesser“ (9). Darin nimmt ein Bibliothekar das Lesen so innig und wichtig, dass er das Gelesene gleich zu verdauen anfängt. Er frisst die Bücher nicht nur im übertragenen Sinn, sondern absorbiert sie und macht die Bücherzellen zu Körperzellen. Vor allem während der Pubertät kommt es erstmals zu bibliothekarischen Fressattacken.

Dabei hat alles ganz easy angefangen, zum Lesen gibt es etwas zum Trinken, aber allmählich wird das Getränk wichtiger als die Lektüre. Auf der Suche nach der Konkordanz zwischen den einzelnen Buchtiteln und Getränkesorten ergibt sich die Notwendigkeit, die Bücher zu verkosten.

Die Erzählung mausert sich allmählich zu einer Laudatio über den Beruf des ungegenderten Bibliothekars heraus. „Ich zog in eine andere Stadt und machte eine Ausbildung zum Bibliothekar. Das war mein Traum. Leben inmitten tausender Bücher.“ Die einzelnen Buchtitel lassen sich ähnlich wie Leibspeisen beschreiben, das Lesen wird zum Nachkochen von Rezepten. Besonders „lecker“ sind Andersch, Brecht, Frisch, Hemingway oder Thomas Mann.

„Stille“ (14) erzählt von den Geräuschen, die nach einem absolvierten Leben übrigbleiben. Eine Erzählerin übernimmt die Wohnung eines Steinmetz-Künstlers, die quasi noch im Arbeitsmodus ausgehändigt wird. Wie eine Bitte sind diverse Schriften des Verblichenen ausgelegt, die neue Bewohnerin beginnt zu lesen.

Als Hardrock-Fan ist der Künstler stets einem gewissen Lärmpegel ausgesetzt, wahrscheinlich um die Schläge beim Behauen der Skulpturen zu übertönen. Was ist laut? Was ist leise? Während sich der sichtbare Teil des Kunstwerks als Statue durch die Zeit frisst, bleiben die begleitenden Schläge und Töne ungehört.

So vergehen die Tage im harmonischen Klang.

„Draußen / Drinnen – in naher Zukunft“ (19) berichtet von der goldenen Empfindungslage des gereiften Alters. In einem sogenannte „Joint-Refugium“ dürfen sich 70-Jährige noch einmal richtig einrauchen, um dem Lebensabend einen Sinn zu geben. Dabei kommt es zum Phänomen, dass sich Innen- und Außenwelt überlappen. Einmal im Jahr gibt es Neuzugänge, die dann in die geheime Seniorenwelt eingeführt werden müssen. Um die Alten fit zu halten, tagt sogar ein Seniorenparlament. Dabei werden Programme aufgetischt, deren Sinn niemand kontrollieren kann. Schwerpunkt ist die Entwicklung eines Serums für Selbstzufriedenheit. Einige Alte machen begeistert mit, weil die Arbeit im Versuchslabor irgendwie nach Sinn ausschaut.

Der sogenannte „Ausflug in die Berge“ (34) stellt sich bei genauerem Hinsehen als Antiidylle heraus. Die üblichen Bergerlebnisse leben ja von der Euphorie, mit der die Helden von ihren Abenteuern erzählen. Das Gebirge zeigt sich indes als gewöhnliche Landschaft, die mit den Elementen des Alltäglichen stets aufs Neue bezwungen werden muss.

Quasi als Gegenpol sind fünf „Strandgeschichten“ konzipiert, worin die sagenhafte Urlaubsstimmung der Älpler am Strand heruntergebrochen wird auf den Umgang mit Gebrauchsgegenständen und Dienstleistern, wie 30 Strandtücher, Tischtennis, Der Hotelchef, Regatta, Monsieur Smet.

Drei Geschichten über den letzten Sinn des Lebens sind als Dreiakter angelegt:

  I Man existiert und geht (96)
  II Das ereignislose Leben des Herrn Zett (112)
  III Das ereignisreiche Leben des Herrn Zett (120)

Zur Sprache kommen sogenannte „philosophische Übergaben“, wenn also die Großmutter die wesentlichsten Sätze an die Enkel weitergibt, wohl wissend, dass diese damit nichts anfangen können. So lässt sich auch diese fatalistische Haltung deuten, wonach das Leben eine ziemlich wortlose Fortbewegung durch die Zeit ist. Logischerweise besteht kaum ein Unterschied zwischen einem ereignisreichen und ereignislosen Leben. Es ist alles eine Angelegenheit der Perspektive.

Sylvia Dürr beobachtet die Heldinnen ihrer Geschichten mit cooler Distanz, um die Dinge klar zu sehen, muss man sie oft ein Stück von sich fern falten. Dahinter steckt vielleicht auch die Lesehaltung im Alter. Um scharf zu sehen, muss man den Text oft ein Stück von sich fernhalten. - Die Geschichten aus dem Buchesser eröffnen skurrile Zugänge in eine Welt der ausgereiften Fiktion.

Sylvia Dürr, Der Buchesser. Short Stories
Innsbruck: Verlag Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative TAK 2024, 192 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-900888-88-6

 

Weiterführende Links:
Verlag Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative: Sylvia Dürr, Der Buchesser
GAV: Sylvia Dürr

 

Helmuth Schönauer, 09-10-2024

Bibliographie
Autor/Autorin:
Sylvia Dürr
Buchtitel:
Der Buchesser. Short Stories
Erscheinungsort:
Innsbruck
Erscheinungsjahr:
2024
Verlag:
Verlag Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative
Seitenzahl:
192
Preis in EUR:
20,00
ISBN:
978-3-900888-88-6
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Sylvia Dürr, geb. 1954, lebt als „Deutsche“ in Innsbruck.