Ein „fettes“ Buch über die Lebenszeiten verlangt gerade von Lesern im Dritten Lebensalter, schroff Rente genannt, vor allem Optimismus, dass sie das Buch noch in dieser Welt fertigkriegen. Andererseits gibt es über die Angehörigen dieser Kohorte einfach viel zu berichten, weil auch im einem schmalen Leben mit der Zeit viel passiert.
Bernd Marin gilt als Österreichs Parade-Soziologe für das Thema Pension. Ihm sind nicht nur die aktuellen Ruheständischen zu Dank verpflichtet, weil er dieses Thema als zentrales Lagerfeuer politischen Agierens angezündet hat, ihm werden auch noch kommende Generationen dankbar sein, wenn sie beim Auslöffeln des finanziellen Desasters wenigstens ein Lesebuch zur Verfügung haben, worin die Kerndiskussionen für eine alternde Gesellschaft abgebildet sind.
Der Essayband „LebensZeiten“ ist eine multimediale Zusammenschau über das soziologische Gewusel der Gegenwart, wobei vor allem das Altern und Reifen der Themen im Vordergrund steht. Der Autor kommentiert seine Themen zwar von einem bestimmten Zeitpunkt aus, aber das Wichtigste ist immer das Werden und Vergehen der Protagonisten.
Die Essays sprechen jeweils für sich, manchmal sind QR-Codes eingedruckt, über die man spielend zu Interviews, Sendungen, Lehrfilmen und Podcasts gelangt.
Die Grunddaten für das haptische Buch lauten: 30 Jahre Recherche und Formulieren, 175 Essays, 13 Kapitel.
Wenn man den österreichischen Lieblingsausdruck für ein gelungenes Leben in den Mittelpunkt stellt, so dreht sich tatsächlich alles um die Pension. Sie ist Traum, Enttäuschung, Last und Selbsterlösung in einem. Unter der Pension leiden Individuen, Akteure, Finanziers und Gesellschaft gleichermaßen. Dabei setzt sich die österreichische Eigenheit durch, die Dinge nostalgisch, monarchisch, barock-bürokratisch zu deuten – wie immer bestens zusammengefasst mit dem Musilschen Begriff „Kakanien“.
Aus den 13 Kapiteln stechen sofort diese Kakanischen Deutungen des österreichischen Gesellschaftslebens hervor, ein anderer Schwerpunkt widmet sich dem puren Zeitverlauf, der oft so unauffällig geschieht, dass sich das Gefühl einschleichen könnte, gar nicht gelebt zu haben. Auf dieses Gefühl spielt schließlich der Untertitel an: „Man lebt nicht einmal ein Mal.“
Das Altern kommt quasi in jedem Diskussionscluster vor und wird oft befreiend süffisant beschrieben. So erfährt die Überlegung, dass Tagesgäste ohne Gepäck meist etwas Elementares im Schilde führen, zur touristischen Kernfrage: Wie lange und mit wie viel Ballast muss ich wegfahren, bis ich verstehe, dass ich weg bin? (115) Professionelle Gepäcklose sind meist harmlose Seitenspringer, durch Unglück der Habe Beraubte oder übermüdete LKW-Fahrer, die sich einmal in einem echten Zimmer ausstrecken dürfen und daher ihr Gepäck in der Fahrerkabine lassen.
Ähnlich touristisch-logisch erweist sich das Ansprechen von Hundebesitzern als Kundschaft. Dabei bedarf es der soziologischen Analyse, welcher Hund in der Gesellschaft welche Funktion hat. Als Premiumsegment erweist sich das Feld der Kampfhunde, wenn diese auf einem ausgewiesenen Laufsteg quer durch die Innenstadt geführt und bewertet werden. (297)
Der Welt des Tourismus ist schließlich auch jener Vorschlag zuzuordnen, Glück durch „Regionalmanagement“ (124) zu initiieren. Im Sinne eines permanenten Alterungsprozesses arbeiten Gäste, Einheimische und Dienstleister an der Verbesserung einer Region, die dadurch Heimat für alle Mitwirkenden werden kann.
Die einzelnen Beiträge wirken als verschmitzte Überlegungen, die auf wissenschaftlich gesichertem Material aufbauen, das freilich durch die Erzählung zu einer unterhaltsamen Sache wird. Daraus ergibt sich der sogenannte „Marin-Stil“, der einen Stoff flüssig wie ein Pop-Kunstwerk zur Debatte stellt und dabei so etwas wie einen Ohrwurm der Gedanken loslässt.
Dieser feine populär-wissenschaftliche Stil ist stets durch Ironie vor der Vermutung geschützt, man könnte einen komplizierten Sachverhalt wie die österreichischen Pension knallig, populistisch oder plump erzählen.
Bernd Marin entwickelt mit seinen „LebensZeiten“ einen ermunternden Sinn: In der intellektuellen Auseinandersetzung vergeht das Leben wie im Nu! Eben mit den Augen noch oben bei der Themenfindung in der Überschrift ist man als Leser schon unten in der Fußnote und in Rente. – Jeder Essay wird dadurch zu einer Tagesration des Lebens mit allen Verwitterungsstufen, die jedes Thema zu durchlaufen hat.
Bernd Marin, LebensZeiten. Man lebt nicht einmal ein Mal …. [2. Auflage]
Wien: Sonderzahl Verlag 2024, 495 Seiten, 29,00 €, ISBN 978-3-85449-652-6
Weiterführende Links:
Sonderzahl Verlag: Bernd Marin, LebensZeiten
Wikipedia: Bernd Marin
Helmuth Schönauer, 20-12-2024