Gedichte wühlen uns auf, wenn sie uns in flagranti im Alltag erwischen. Sie erwärmen uns, wenn sie Ordnung ins Tagwerk bringen, sie schärfen unsere Sinne, wenn sie uns die beiläufige Petitesse als Teil eines Weltdramas zeigen.
Hannes Vyoral nimmt das „frühstück wie immer“ als Anlass, den Tag aufs Neue anzugehen. Die Aktionen rund ums Morgenritual des Aufstehens liefern zuerst nur Halbsätze, die sich im lyrischen Ich Gehör verschaffen, allmählich entwickelt sich aber ein komplettes Frühstücksbild mit Zähneputzen, Marmorkuchen und dem Entzünden neuer Gedanken, die wie Vögel durchs Gehirn huschen. Wenn dann das erste Papier ausgelegt für das Scheiben, kann der Alltag des Dichters beginnen. Der Begriff „Alltagsgedicht“ beschreibt sowohl die Entstehung des Gedichts als auch die Transformation alltäglicher Denkmasse in Lyrik.
Aus den gut hundert Gedichten lassen sich zwei Vogelschwärme an Gedanken herauslesen. In einem Jahresflug geht es durch die Witterungen und Jahreszeiten, im Tagesflug rücken die Bilder als Zeiger einer Wanduhr über die Tagesfläche und erhellen jäh Frühstück, eine leere Gasse zu Mittag oder das Bett zum Einschlafen und Aufwachen mit der Geliebten.
Die Gedichte sind oft unscheinbare Dellen im Zeitstrom, mit dem das Auge durch die nähere Umgebung wandert, durch den Garten, den Hof, die Straße vor dem Anwesen. Bei dieser Gelegenheit zeichnet das lyrische Ich die atmosphärischen Unebenheiten auf, die sich wie Zacken auf der Trommel eines Seismographen zu Gedichten entwickeln.
„kastanie im hof // schau mein kind / am baum / die dicken bommel // frühling naht / es knospt“ (11)
Aus der grobkörnigen Glasur des Alltags entwickeln sich unerwartet Fragen, wodurch die Verlässlichkeit der angebotenen Koordinaten in Zweifel gestellt wird. „eine frage von ort und zeit // welches unglück / ist so groß / dass es mir / die sprache verschlägt? // ich hatte glück / es nie zu erfahren“ (13)
Das Unaufgeregte taucht vor der Kopfkamera auf, die sich als idealer Aussichtspunkt über den Alltag erweist. Während die nahen Dinge gestochen scharf ins Bild springen als hoch gewachsenes Gras mit spitzen Halmen, erscheinen die fernen Katastrophen wie das Grummeln eines Gewitters, dessen Zugrichtung noch nicht klar ist. „fernab // fernab vor kriegsschauplätzen / blüht mein garten“ (14). Der Schrecken wird durch die Idylle scheinbar gezähmt, aber er hat nur seinen Status geändert und ist ins Ungewisse übersiedelt, im Unterbewusstsein hat sich ein Riss aufgetan.
Sommer wird es und heiß, die Sehnsucht treibt das Ich in die Berge, worin nur im ersten Augenblick alles steiler wirkt durch ein aufgestacheltes Echo. Zur Ruhe gekommen verlangen die Dinge die gleiche Hingabe wie die Petitessen im Innenhof, die täglich abgerissen werden wie auf einem Wandkalender.
Diese Haarrisse der Veränderung werden erst sichtbar, wenn die gewohnte Brille verloren geht, und die Gedichte ungeübt groß auf einen Zeichenblock geschrieben werden müssen wie bei einem Panoramabild. (41)
Der Herbst lässt die Pendler des entrückten Dorfes wieder zu den Zügen eilen, sie wollen den Anschluss an das große Arbeiten in der Stadt nicht verlieren. Den Zurückgebliebenen bleibt das kleine Tagwerk im Dorf, das umso emsiger betrieben werden muss.
Dieses Tasten und Begreifen erinnert an eine ferne Kindheit, in der die Größe der Welt noch mit eigenen Sinnesorganen begreifbar war.
„rückschau // einstmals / traten wir hinaus / durch die offene tür / in den morgenwind / ins frische sonnenlicht / und griffen ins gras / ins laub der bäume / und begriffen es / als teil von uns selbst / da war die welt / noch in ordnung“ (61). Dieses Gedicht in der Mitte des Bandes treibt auch die Absicht auf die Spitze, durch Rückschau an Zuversicht zu gewinnen.
In der Folge geht es in den Winter hinein, den der Autor kurz zu halten versucht. Es werden nur jene Tage ausgeleuchtet, an denen es Spuren von Licht gibt. Die Gedichte sind eingefroren wie die Vegetation, nur das Nötigste darf als Zeile aufs Papier.
Und am Schluss gibt es ungestümes „Lichtgetöse“, die Vögel sind wieder da „wir reiben uns den winter aus den augen“. (108)
Man liest und liest und lässt sich treiben. Was muss Hannes Vyoral für ein zuversichtlicher Mensch sein, dass ihm das Tagwerk unter der Hand zu Alltagsgedichten zerrinnt!
Hannes Vyoral, frühstück wie immer – alltagsgedichte. Herausgegeben und mit Nachwort von Helwig Brunner
Graz: edition keiper 2024 (= keiper lyrik 31), 112 Seiten, 16,00 €, ISBN 978-3-903575-26-4
Weiterführende Links:
Edition Keiper: Hannes Vyoral, frühstück wie immer – alltagsgedichte
Wikipedia: Hannes Vyoral
Helmuth Schönauer, 28-12-2024