Seit der Literaturmarkt die einzelnen Werke verwechselbar macht und im Sinne der KI einheitliche Texte einfordert, müssen die letzten ums Lesen und Schreiben Kämpfenden neue Publikationsformen entwickeln. Der Sisyphus Verlag leistet sich dabei zwei Experimente. Im Falle von Ludwig Roman Fleischer werden etwa seine Werke in eine Themen-Trommel geschüttet und neu gemischt und verdichtet. Im Falle von Kurt Leutgeb werden unter dem Aspekt einer Gesamtausgabe mehrere Stufen der Edition eines Werks vorgestellt, dabei wird die Rezeptionsgeschichte wesentlicher Teil der Erzählung.
Kurt Leutgeb stellt sein Projekt „Berlin & Paris“ zweimal vor. Dadurch wird offengelegt, wie sich der gleiche Stoff einmal als Roman und ein andermal als Novelle an das Lesepublikum heranschleicht. In beiden Fällen ist die Auflage überschaubar, sodass man als Autor zu jedem Genre quasi die Gesamtzahl der Lesenden im Auge behalten kann.
Berlin & Paris – Novelle lässt sich als „Erzählung in drei Teilen“ lesen:
a) Im Vorwort erklärt der Autor die Entstehung des Projekts. Der Ur-Text ist als kleine Novelle nach dem Tod von David Bowie 2016 quasi für den eigenen Schreibgebrauch entstanden.
Da die übliche Verkaufszahl seiner Bücher etwa bei fünfzig Stück lag, wollte er einmal aus dem Sisyphus ausbrechen und es mit einem größeren Verlag versuchen. Freilich ist er über die bloße Kontaktaufnahme mit einer Literaturagentur nie hinausgekommen. Diese freilich verlangte, dass die eingereichte Novelle zu einem 200-seitigen Roman aufgeblasen würde.
Der Autor erinnerte sich an ein Bild über den Unterschied von Roman und Novelle und begann den Text ins Voluminöse zu treiben. Der Unterschied lässt sich mit einem Bild darstellen: Besucht man etwa in Prag die Burg, so wäre der Roman ein Durchforsten der Anlage bis in den letzten Winkel. Die Novelle hingegen wäre der Ausblick von einem Burgfenster aus auf die Stadt hinunter.
Aus dem Ansinnen „größerer Verlag“ ist nichts geworden, weil im Literaturbetrieb mittlerweile weder Agenuteren noch Verlage auf Mails antworten. Der Roman „Berlin & Paris“ ist letztlich wieder bei Sisyphus erschienen und wurde wie üblich wahrgenommen. (Im Projekt „Buch in Pension“ gab es immerhin eine Rezension.)
b) Im Nachwort erzählt der Verleger Winfried Gindl, was so alles hintenherum im Literaturbetrieb geschieht, ehe dann irgendwo ein Buch erscheint oder die Kommunikation versickert. In seiner Erzählung verwendet er Klarnamen, wo im Vorwort oft nur Typen genannt sind. Dabei tut sich eine einzigartige Hinter- und Unterwelt auf. Nicht nur die Autoren arbeiten sich nämlich an den Texten ab und erzeugen dabei ein persönliches Schicksal, auch die Verlegerschaft entstammt einem eigenen Lostopf, aus dem der Literaturmarkt im Schwarm-Modus ab und zu das große Los zieht und jemanden für ein paar Augenblicke in seinem Beruf reüssieren lässt.
Für das Projekt „Berlin & Paris“ bedeutet das, dass die Urfassung als Novelle im Windschatten der Leserschaft aufgelegt und zu einem Baustein für das Gesamtwerk Kurt Leutgebs im Sisyphus-Verlag wird.
c) Die sogenannte Kerngeschichte oder Ur-Novelle kümmert sich um die Biographien von David Bowie und Jim Morrison. Beide scheinen ursprünglich in Los Angeles zu scheitern und brechen nach Europa auf, um im Kontext des Dritten Reichs und der Französischen Revolution in Berlin und Paris einen künstlerischen Höhepunkt hinzulegen.
Dabei werden die Biographien, wie wir sie als die Geschichte von Pop-Ikonen kennen, zuerst in trivial-individuelle Reiseberichte zerlegt. Später kommt es zu einer persönlichen Begegnung, aber statt eines künstlerischen Austauschs werden nur die Sexualpartnerinnen getauscht. Die Novelle mündet in eine groß angelegte Substitution, worin sich die beiden Helden samt ihrer Biographie austauschen und vertauschen. Folglich stirbt Jim in Berlin als Bowie, während David als Morrison in Paris sein Ende findet.
Durch die „postume“ Veröffentlichung dieser Kernnovelle, entsteht im Leser eine zusätzliche Erzählebene, denn dieser versucht die kleine Novelle in der erinnerten Lektüre des großen Romans unterzubringen. (Natürlich muss er den Roman noch einmal lesen, wiewohl er gerade erst im Frühjahr 2023 erschienen ist.)
Die drei Erzähl-Kapitel bilden wahrscheinlich ein eigenes Genre, das man mit Edititions-Verleger-Novelle beschreiben könnte. Nicht nur die beiden Protagonisten Jim und David werden durch diese Verschränkung neu aufbereitet und in die Popkultur implantiert, auch das Erzählen darüber, sowie das Verlegen und Vergessen der Texte unterliegt Pop-ähnlichen Gesetzmäßigkeiten.
So könnte man die Novelle als Theorie bezeichnen und den Roman als Anwendung, und beide verwenden über Strecken die gleichen Erzähl-Bausteine und trotzen somit jeder KI.
Kurt Leutgeb, Berlin & Paris. Novelle, mit einem Vorwort des Autors und einem Nachwort von Winfried Gindl
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2024, 114 Seiten, 12,80 €, ISBN 978-3-903125-89-6
Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Kurt Leutgeb, Berlin & Paris
Homepage: Kurt Leutgeb
Helmuth Schönauer, 22-12-2024