Lyrik wird gespeist aus einem Befinden, das als Ur-Ozean bezeichnet wird. Der Essayist Alexander Kluge vermutet von diesem Urzustand, dass er den Subjekten eine stabile Körpertemperatur vermittelt, die ungefähr bei 37 Grad liegt.
Rudolf Kraus rückt diesem poetischen Raum mit einer „Versvermessung“ auf den Leib. Dabei macht er sich die Fähigkeit von Lyrik zu Nutze, wonach diese gleichzeitig als Gesang, arithmetische Operation oder rhythmische Aktion auftreten kann.
Ein Blick auf die Gliederung dieser poetischen Masse lässt einen an einen „lyrischen Auszählreim“ denken:
- dreizehn Dreizeiler
- siebzehn Siebzehnsilber
- elf Elfsilber (Rukai, 3-5-3)
- fünf Fünfsilber, die Verknappung der Verknappung
- Suchbilder
- Silber
Armin Baumgartner stellt in seinem Nachwort drei Quellen vor, aus denen die Silben und Zeilen während der Vermessung sprudeln. Es sind dies Primzahlen, zu denen der Autor eine beinahe existentialistische Zuneigung pflegt, es sind dies die archaischen japanischen Formen der Reduktion, die sich vor allem in Haikus zeigen, und es ist schließlich die kühne Exotik eines H. C. Artmann, die eine Verbindung zwischen dem barocken Österreichischen und der fernöstlichen Koan-Kultur herstellt.
In einem Elfer-Gedicht beschreibt der Autor diese Vermessenheit:
„mein schlichtes gedicht / ich weiß ihr glaubt es mir nicht / ist schlicht ein gedicht“ (11)
Selbst ein komplizierter Lebenslauf lässt sich nach dieser Methode des Eindampfens von Wortfeldern aufs kürzeste darstellen. „ich fühlte mich frei / als ich bad fischau verließ / bis mir brunn abging“ (14). Aus der biographischen Notiz über Rudolf Kraus ist zu entnehmen, dass sowohl Bad Fischau als auch Brunn wesentliche Stationen seines Werdegangs markieren.
An anderer Stelle werden persönliche Entwicklungen des lyrischen Helden mit allgemein gültigen Erfahrungen der Zeitgenossen verschränkt. „in den siebzigern / begann der bart zu wachsen / im ersten gedicht“ (29) […] „mir ist kalt / ach ich werde alt / ja steinalt“ (47)
Als Sicherungshaken im lyrischen Gelände sind stets Genre-spezifische Vermessungspunkte eingeschlagen.
„kein / haiku ist / ich“ (63)
Und auch der obligate Vogel, der bekanntlich für die Zertifizierung von Gedichtbänden an geheimer Stelle eingesetzt werden soll, lässt sich bald ausfindig machen. „ein vogelkonzert / im duftenden bärlauchwald / ein specht sorgt für ruh“ (32)
Im hinteren Drittel huldigt die Lyrik dem visuellen Aspekt, indem die Suchbilder als rätselhafte Fotostrecke ausgelegt sind. Dabei ergeben die Bilder eine Story, die sich bei jeder Lektüre neu aufbaut. Aber auch die einzelnen Bilder sind als dramatische Screenshots lesbar, manchmal wirken sie wie Emoticons in schwarz-weiß.
- Enten im Wasser umkreisen einen Pflanzenstengel, der ihnen als frisch aufgestellter Maibaum dient.
- Ein unruhiges Ufer erodiert unter einem schweren Ast, der sich eben ins Wasser gelegt hat.
- Eine Windskulptur aus abgebrochenen Sensenblättern stellt sich auf und stürmt aus dem Bild heraus.
- Eine gereifte Person sitzt vor den Handgriffen eines Rollators frei auf einer Parkbank.
- Eine amorphe Metallplastik aus losen Dosen zitiert die Struktur eines Abfallhaufens.
In den abschließenden „silbern“ wird Lyrik noch einmal extrahiert, bis jenes konzentrierte Material vorliegt, das man in der Forensik als Quellmaterial für DNA-Recherche nutzt.
In den abschließenden Silbern sind nur mehr „epochale Sätze“ zugelassen:
„epochal // früher war alles später / später war alles kaputt“ (97)
Manche Sätze haben das Zeug zu einem Gassenhauer oder Ohrwurm: „Wenn ich einmal / nicht mehr bin / ist’s auch nicht schlimm“ (98). Andere Zeilen aus der „Versvermessung“ bleiben auch nach Jahren intensiver Lektüre noch ein Rätsel.
„so ein loch / bleibt stets ein rätsel / ist nie rund“ (54)
Rudolf Kraus, versvermessung. siebzehnsilber: senryu – haiku – dreizeiler elfsilber: rukai fünfsilber suchbilder silber. Fotos. Nachwort von Armin Baumgartner
Wien: Verlagshaus Hernals 2024, 108 Seiten, 23,90 €, ISBN 978-3-903442-62-7
Weiterführende Links:
Verlagshaus Hernals: Rudolf Kraus, versvermessung
Wikipedia: Rudolf Kraus
Helmuth Schönauer, 23-01-2025