Christl Greller, TAGSÄTZE zur Nicht- oder Bewältigung

h.schoenauer - 13.06.2025

Christl Greller, TAGSÄTZE zur Nicht- oder BewältigungIn der Justiz stellen Tagsätze (Tagessätze) eine wesentliche Einheit zur gerechten Bemessung eines Strafausmaßes dar. Bei Schuldspruch wird man fallweise zu Tagessätzen verurteilt, damit soll sich die Strafe am Einkommen des Delinquenten orientieren.

Christl Greller verwendet den Begriff für ein Projekt, in welchem ein Jahr lang täglich ein Satz geschrieben wird. Ähnlich der Konditionierung an diesem Tag kann so ein Satz zu einer etwas umfangreicheren Notiz ausarten und fallweise den Grundstein für eine Prosazelle oder ein Gedicht legen. Im Untertitel heißen diese Eintragungen daher Poetische Notate.

Das Tagsatz-Jahr beginnt richtigerweise mit dem Geburtstag der Autorin, denn es ist ihr persönliches Jahr, das sie mit Sätzen auskleidet. Dabei reiht sich ein Tag Kalender-genau an den nächsten, aber der aufgezeichnete Stoff umfasst das ganze Leben. Das notierte Jahr ist daher eine kleine Autobiographie, wobei sich über die Jahre verstreut verlässlich jeden Tag etwas ereignet hat.

Um diese verschiedenen Zeitschichten anzusprechen, sind die Texte in unterschiedlichen Schriften notiert. Eine der Handschrift nahe Form weist daraufhin, dass die Texte zwischendurch mit flüchtigem Schriftzug angerissen worden sind, ehe sich daraus eine Tagsatz-Story entwickelt hat.

Die Tage als Gliederungselement bieten jeden Menge Anknüpfungspunkte für Geschichten und Impressionen. Jahreszeiten und Feiertage geben Anlass für Poesie im Freien oder Festlichkeit für die Seele. Allein um Allerheiligen herum entwickelt sich ein ganzer Zyklus von Erinnerungen an die Verstorbenen. Die Autorin besucht das Grab der Mutter als Kind, das jenes Haus betritt, worin die schöne Kindheit zugegen war.

Notizen zum Alleinsein in der Nacht, zu Schlaflosigkeit und innerer Heftigkeit gelten für das Kind gleichermaßen wie für die Liebende, die eines Nachts völlig versunken den Geräuschen ihres Geliebten lauscht.

Während des Reisens sind die Notate kleine Ausrisse aus Fahrplänen, Reiserouten und aufgesuchten Orten. Verbindendes Element ist oft der Blick aus einem Zugfenster, wo sich eine Landschaft auftut, die zurückgereist ist in die Vergangenheit und im zweiten Blick eine völlig andere Gegend zeigt. Tatsächlich verschmelzen die Eindrücke oft innerhalb eines Augenblicks, sodass manche Sätze aus unendlich vielen Schichten zusammengeklebt sind. Jedes Erinnern ist ein Drüberwischen über die Vergangenheit, die dadurch nicht klarer, sondern mannigfaltiger wird.

Manche Wörter lösen eine komplette Geschichte aus. „Fahrerwechsel.“ – Die beiden Chauffeure sprechen verschiedene Sprachen, aber das „Servas“ macht sie zu Komplizen des Busses. (379)

„Im Grenzdorf.“ – Wie einfach es daliegt mit seinen Häuserzeilen und zum Teil zu Tode renovierten Fronten. (123)

Stets werden die Sinnesorgane miterzählt, wenn sie einen Eindruck zusammenstellen, der dann ins Notizbuch kommt. Die Geräusche sind oft zu laut, die Nacht ist zu lang, die Erinnerung zu jäh, wenn sie beim Zähneputzen kommt. Jeder Eindruck könnte auch eine Sinnestäuschung sein. Andererseits sagt die Erfahrung, dass alles so richtig ist, wie man es erlebt. Und die Erfahrung ist weit größer als die Ansammlung von Tagen während eines Jahres.

„Wie ist der Tod in der Natur? – Wir sterben länger als früher.“ (139)

Gerade was so eindeutig wirkt, entpuppt sich als Rätsel, wenn man sich länger mit den Aufzeichnungen beschäftigt. Das hat auch mit dem Seitenhieb des Titels zu Tun: „Zur Nicht- oder Bewältigung“. Lösung und Scheitern spielen sich innerhalb eines einzigen Satzes ab.

„Wo etwas immer liegt, weiß man genau. Man sieht es förmlich vor sich auf seinem Platz. Nur leider ist man inzwischen umgezogen.“ (145)

Christl Grellers Tagsätze beeindrucken durch die Konsequenz, mit der sie diesen Schatz aus Erinnerung und Erfahrung hebt, um ihn in kleinen Dosen der Gegenwart eines Tages zuzuführen. Diese Methode der Achtsamkeit auf das bereits Vorhandene prägt auch ihr literarisches Arbeiten. In ihren Gedichten und poetischen Notaten erfindet sie nie, weil das zu flüchtig wäre, sie renoviert das Vorhandene, weshalb ihre Literatur glaubwürdig und up to date ist.

Christl Greller, TAGSÄTZE zur Nicht- oder Bewältigung. Poetische Notate. Cover von Yoly Maurer
Oberwart: edition lex liszt 2025, 160 Seiten, 19,50 €, ISBN 978-3-99016-302-3

 

Weiterführende Links:
edition lex liszt: Christl Greller, TAGSÄTZE zur Nicht- oder Bewältigung
Wikipedia: Christl Greller

 

Helmuth Schönauer, 24-05-2025

Bibliographie
Autor/Autorin:
Christl Greller
Buchtitel:
TAGSÄTZE zur Nicht- oder Bewältigung. Poetische Notate
Erscheinungsort:
Oberwart
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
edition lex liszt
Seitenzahl:
160
Preis in EUR:
19,50
ISBN:
978-3-99016-302-3
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Christl Greller, geb. 1940 in Wien, lebt in Wien und Burgenland.