In goldenen Lettern prangt ein magischer Begriff vom Buchdeckel: HURT. In einer ersten Übersetzung stellt man sich etwas mit Verletzung und Schmerz vor. Und später wird klar, dass es sich um einen Zustand der Trance und der Körperverletzung handelt, wie er beispielsweise während eines Berglaufs auftreten kann.
Christoph Szalay stellt mit Hurt eine Geschichte des Heran-Tastens an ultimative Grenzen vor. Dabei beginnt das Protokoll recht verheißungsvoll: „der erste Blick des Tages in den Himmel, um zu sehen, ob er trägt“. (10)
Die poetische Extremveranstaltung ist zwar wie in einem zweidimensionalen Buch als fortlaufende Schrift angedeutet, aber schon beim ersten Scannen des Textes tritt diese Extrem-Information aus der Zeilenordnung heraus und verlangt nach einer neuen Hängung der Schriftzeichen und Zeichnungen. „Traction / Vertical / Hurt“ heißen die Griffpunkte, an denen die Hauptlast des Textes hängt.
Ein kletternder Laufkörper betritt die Szene mit Überlegungen aus dem Erfahrungsschatz extremer Bergläufe, der Tag wird vorsichtig abgetastet, ob er den Körper bei dieser Witterung tragen wird, und der Tag ist bereits dreidimensional wie Körper und Vorhaben, die aufeinandertreffen werden.
Das Kapitel Vertical am Beginn erstreckt sich über zwanzig Seiten, indem jeweils nur die Headline mit einem abrupt einsetzenden Begriff in Anspruch genommen wird.
„Wird vielleicht an den ausgesetzten Stellen / Spuren folgen, einer Landschaft an den Beinen / still werden / nach dem Wind hören“ (S. 9-28)
Obwohl der Laufkörper scheinbar das meiste mit den Beinen erledigt, sitzt seine Schwerkraft zentral im Bauchgefühl und steuert Kopf, Wind und Wetter mit den Gliedmaßen, die letztlich zwei Möglichkeiten haben: Laufen durch Neugierde oder Laufen nach Karte. Aus diesem Move entwickelt sich eine einzigartige Form der vertikalen Traktion: Die GPS-Daten des Geländes verschmelzen mit den Körperdaten der Lauf-App.
Der Lauf entwickelt sich spätestens dann zu einem Kunstprojekt, wenn seine Daten graphische Gestalt annehmen. Die Parameter erscheinen zuerst als rätselhafte Liste, die sich jemand ausgedruckt hat, um sich darin als Individuum zu verankern. Ein graphischer Schlenker quer über das Datenmaterial erweist sich schließlich als Meta-Handbewegung, mit der alle Pläne und Listen künftig abgezeichnet und abgehandelt werden.
Aus der Datenmasse heraus ragt ein „Graph“, der sich alsbald zu einer eigenständigen Zeichnung entwickelt, die vage an die Konturen eines schroffen Geländes erinnert.
In dichten Prosazellen, verklumpten Blutplättchen nicht unähnlich, dringen physikalische Gegebenheiten, medizinische Befunde und erzählte Lauf-Weisheiten in den Blutkreislauf und pumpen die Erzählung entlang von Falllinien in die Höhe.
„Laufen bedeutet Masse, erinnerst du dich, gelesen zu haben.“ (43)
Während des Berglaufs verschmelzen diverse Forschungs- und Wissenschaftsfelder zu einem einzigen Konglomerat, wie auch das Gebirge schließlich eine in die Höhe geschobene Masse aus Schichten und Kräften ist. Mal sind es kleine Impulsreferate, die das Gehirn dem Körper vorträgt, mal sind es Dateien voller Motivation, die oft in einem einzigen Mundartausdruck der Region münden: „Heid ned.“
Das Kompendium aus Reflexionen und Mitschnitten dünnt sich gegen Ende aus und wird wieder zu jener Kopfzeile, die der leeren Fläche vorangestellt ist wie der eigene Kopf dem leeren Körper aus Papier.
„anlehnen, an die vorüberziehenden Bergrücken / hoffen auf Wiederkehr“ (119)
Und auch das HURT hat während dieses poetischen Aktes diverse Deutungsmöglichkeiten und Absonderlichkeiten angenommen, es wird zu einer alten Form von Gelenkigkeit und Spritzigkeit, wie wir es als „hurtig“ kennen.
Auf dem poetischen Lauf durch dieses HURT sind Zeichnungen ausgelegt wie Kraftriegel, die während höchster Anstrengung aufgerissen und in den geschundenen Körper hinein gejagt werden. Ein vornehmerer Ausdruck wäre Labe-Stationen. An den Zeichen und Zeichnungen labt sich das Auge, das diesen Parforceritt mitmacht.
Die Materialiensammlung verweist schließlich auf Infotafeln, Bergliteratur, regionale Prospekte und wissenschaftliche Beiträge zu Extremsportarten. Die Materialiensammlung ist für die Wissenschaft nämlich jenes Gelände, auf dem der Laufschuh des HURT-Künstlers aufsetzt.
Christoph Szalay, HURT. Mit Zeichnungen von Sarah Sternat
Klagenfurt: Ritter Verlag 2024, 128 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-681-9
Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Christoph Szalay, HURT
Wikipedia: Christoph Szalay
Helmuth Schönauer, 24-06-2025