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eleonore weber, die bäume am abhangWenn sich die Menschheit klimatisch beschleunigt dem Ende zuneigt, so ist es durchaus an der Zeit, das Literaturprogramm darauf einzustellen und Genres zu benützen, die dieser besonderen Zeit entsprechen.

Eleonore Weber greift auf einen unauffälligen Satz aus der ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke zurück, um eine Gedichtkette auszulösen, die elegisch wirkt, ohne eine Elegie zu sein. – „Es bleibt uns vielleicht irgendein Baum am Abhang, dass wir ihn täglich wiedersehen“.

martin kolozs, auch kannibalen essen mit besteck„Da bleibt uns noch ausreichend Zeit. – Zeit wofür? – Finden wir es heraus.“ (55) Dieser Kurzdialog, den der fiktive Joseph Roth mit seiner Frau Friederike führt, stellt in kürzestmöglicher Form den Sinn des Lesens dar.

Martin Kolozs gilt mittlerweile als Fachmann für biographische Lebensspitzen. Nach seiner Theorie und Praxis zeigt sich das Besondere eines Lebens nicht nur in den großen Taten und Ideen, die jemanden vielleicht bekannt gemacht haben, sondern vor allem in der Trvialität, mit der der Alltag beinahe unbemerkt vom Helden durchpflügt werden muss.

greta lauer, gedeih und verderbBrutalen Begriffspaare wie Gedeih und Verderb kann man nur mit noch härteren Gegensätzen begegnen, will man als Individuum seinen persönlichen Touch in die Diskussion des Unglücks einbringen.

Bei Greta Lauer fügt die Heldin dem Titel „Gedeih und Verderb“ gleich ein adäquates Handlungspaar hinzu: Schau – Nimm! Diese beiden Befehle strömen auf eine Ich-Erzählerin ein, die nichts anderes im Sinn hat, als sich in der Welt zurechtzufinden und einen Ausgang zu finden aus dem Dorf-Labyrinth, das sich wie enthemmte Darmschlingen um ihre Psyche gelegt hat.

carolina schutti, meeresbriseÜblicherweise erklären Erwachsene in infantiler Sprache den Kids, wo es langgeht. Sie verwenden dazu Bilderbücher und Kurzgeschichten und hoffen, dass die Kids während des Vorlesens eingeschlafen sind, ehe eine Lösung eines Problems zur Sprache kommt.

Carolina Schutti dreht im Roman „Meeresbrise“ den Erzählspieß um, und bringt die Erwachsenen ins Schwitzen, weil keine Lösung hergeht. Niemand schläft nämlich ein, wenn zwei Kids erzählen, was sie alles durchmachen müssen, bis sie formatiert und für den gesellschaftlichen Gebrach genormt sind.

judith herrin, ravenna„Ravenna war ein Knotenpunkt allererster Güte, der die enormen Kräfte, die das Mittelmeer teilen und der westlichen Hälfte der römischen Welt neue Bedeutung verleihen sollte, konzentrierte und zum Teil auch definierte. Die Geschichte Ravennas ist daher nicht bloß die Geschichte einer Stadt, ihrer Herrscher und ihrer Bewohner. Sie erfordert eine viel größer angelegte Darstellung der unterschiedlichen Kräfte und Mächte, die hier gebündelt wurden und Ravenna zum Schmelztiegel Europas machten.“ (S. 27)

Die renommierte englische Althistorikerin und Byzantinistin Judith Herrin stellt in ihrer Monographie „Ravenna“ die politische, religiöse und kulturelle Entwicklung einer außergewöhnlichen Stadt zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert vor, die ihre Blütezeit im 5. und 6. Jahrhundert als Hauptstadt des Weströmischen und gotischen Reiches erlebt hat und heute noch seine Besucher mit ihren Baudenkmälern begeistert.

evgenij dajnov, politik und rockn roll„Seit den frühen Sechzigern bis weit in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts hinein war Rock´n Roll der bevorzugte Schauplatz für den Tanz des Zeitgeistes. Dieser Geist ist natürlich auch in anderen Bereichen präsent – wie im Kino, im Theater, in der bildenden Kunst und der Literatur, mit denen ich mich ebenfalls befassen werde.“ (S. 10)

Evgenij Dajnov zeichnet eine Geschichte des Rock’n’Rolls in seiner politischen Dimension als Reaktion auf gesellschaftliche und soziale Verhältnisse und gleichzeitig aber auch als Antrieb und Anstoß für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen im Zeitraum zwischen 1960 und 2020.

michael krüger, was in den zwei wochen nach der rückkehr aus paris geschahMiese Stimmung bekämpft man in Literatur und Psychologie meist dadurch, dass man sie jemandem umhängt, damit man einen scheinbar konkreten Grund zum Ärgern hat. So ist das Wechselspiel zwischen diffusem und personifiziertem Ungemach ein weites Feld für reifes Erzählen, weil es kein eindeutiges Ende gibt.

Michael Krüger lässt seinen Ich-Erzähler gleich von der ersten Seite an gegen eine ungute Stimmung kämpfen. Dieser wartet am Pariser Flughafen auf seinen Flug zurück nach München, als ihm plötzlich alle Wartenden schräg, skurril und „schafsgesichtig“ vorkommen. Besonders fällt ihm ein Typ auf, der sich wie der späte Orson Welles gibt, aufdringlich, unangenehm, laut. Der Erzähler ahnt, dass es sich um eine längerfristige Sache handelt, die ihm da auf die Pelle rückt, sodass er später in München alles in ein Notizbuch schreiben wird, „was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“.

cornelia dold, außerschulische lernorte neu entdeckt„Die Auseinandersetzung mit dem Thema »Nationalsozialismus« und insbesondere seiner Frühphase scheint gerade in Zeiten gesellschaftlichen Wandels immer wichtiger zu werden. Es stellt sich die Frage, wie man beide Forderungen kombinieren kann, also an einem außerschulischen Lernort wie einer KZ-Gedenkstätte tiefgreifendes Lernen fördern kann.“ (S. 21)

Wie sich an außerschulische Lernorten, wie dem KZ Osthofen selbstreguliertes Lernen für tiefgreifenden Lernprozessen gestalten und umsetzen lässt, steht im Mittelpunkt der Dissertation, in denen die Ergebnisse verschiedene Studien vorgestellt werden. Im Mittelpunkt der Studien stand die Frage, ob sich an außerschulischen Lernorten mit Hilfe von Instruktionen zu selbstreguliertem Lernen sowie einem Training für Fachsprachen und Methoden tiefgreifendes Lernen ermöglicht werden kann.

eva schreiber, eine ahnung vom ende des glücksGlück ist ein treffsicheres Wort, denn alle Sätze damit sind richtig. So lautet eine besonders freche Definition: Glück ist das Ablaufdatum, an dem „es“ vorbei ist.

Eva Schreiber schickt in der Titelgeschichte „Eine Ahnung vom Ende des Glücks“ (131) die beiden am Leben gereiften Freundinnen Ilse und Traude in ein Gespräch, bei dem sie durchaus einen kleinen Schluck Alkohol zu sich nehmen dürfen. Kein Wunder also, dass sie bald auf Glücksmöglichkeiten zu sprechen kommen, die es mit dem Geist aus der Flasche aufnehmen. Beide haben die Kinder erwachsen außer Haus gebracht und die Männer dazu. Wie beim Ausfüllen eines Kreuzworträtsels spielen sie die üblichen Glücksvorstellungen durch und kommen zum Schluss, dass allem der Zauber des Endes innewohnt. Die Beziehungen müssen wohl beendet sein, damit man sie als schön empfinden kann. Aber Traude staunt nicht schlecht, als sie am nächsten Tag beim Zahnarzt sitzt und im Warteraum die Magazine durchgeht, die alle von Wellness und Happiness handeln. Gibt es eigentlich etwas, das nicht glücklich macht? Selbst der Zahnarzt kann zu einem euphorisierenden Gefühl beitragen, wenn der Termin vorbei ist.

gerald murnane, inlandZwischen Ungarn, South Dakota und Australien liegt Gras. Im Gras wird das Einfache komplex und das Komplexe einfach. Wann immer Helden vom Schreibtisch aufschauen und hinausblicken ins Freie, sehen sie Gras. Der vollkommene Roman besteht aus Gras.

Gerald Murnanes „Inland“ duckt sich vor der Bezeichnung Roman, weil er sonst perfekt wäre. Und wie perfekt „Inland“ ist, zeigt eine Nachbemerkung, wonach der Autor ein Vierteljahrhundert nach dem Entstehen 1988 alles noch einmal durchliest und feststellt: Es ist alles ausreichend erklärt und mannigfaltig genug dargestellt. Wenn etwas nicht verstanden wird, liegt es am Leser.