Aktuelle Buchtipps

 

Christine Vescoli, Mutternichts

h.schoenauer - 29.07.2024

christine vescoli, mutternichtsMutterliebe, Mutterschutz, Mutterwitz – mit allem ist in der Literatur zu rechnen. Aber Mutternichts? Ein irritierender Titel wie alles, bei dem das Nichts die Hauptrolle spielt. Christine Vescoli versucht sich an einem erzählerischen Kunststück, sie lässt eine Ich-Erzählerin über die Mutter reflektieren. Und obwohl es in der Erinnerungsliteratur hunderte von Schablonen für Mutter-Gedenken gibt, steht sie vor dem Nichts. „Mutter zieht sich ins Nichts zurück.“ (7)

Die Ausgangslage ist entsprechend fatal. Sobald die Erzählerin mit dem Begriff Mutter konfrontiert wird, ist keine Person mehr dahinter sichtbar, visiert sie aber die Person an, ist der Mutterbegriff weg. Diese wechselseitige Ausblendung von Sichtweisen kumuliert zu einem beinahe haptischen Nichts. „Das Nichts war zeitlebens im Rücken der Mutter, war allumfassend und doch nie greifbar.“

Martin Widmark, Detektivbüro LasseMaja - Das Feuerwehrgeheimnis

andreas.markt-huter - 26.07.2024

martin widmark, das feuerwehrgeheimnis„Es ist ein warmer, schöner Julitag. Lasse und Maja haben den ganzen Vormittag geschuftet, obwohl sie Sommerferien haben: Großreinemache im Detektivbüro ist angesagt. Sie haben alle Möbel, Aktenordner und Kisten raus in den Garten getragen, damit Lasse gründlich den Boden schrubben kann.“ (S. 12)

Die beiden jungen Detektive Lasse und Maja sind gerade beim jährlichen Aufräumen ihres Büros als sie in der Zeitung von einem geplanten Infotag der Feuerwehr und zwei Brandstiftungen in Valleby und lesen, bei denen eine wertvolle Halskette und eine chinesische Vase verschwunden sind. Die beiden Detektive haben den Fall bereits untersucht, ihn aber nicht lösen können.

Ulla Mersmeyer, Die Krümelbande – Heute hab ich Waschbärwut!

andreas.markt-huter - 19.07.2024

ulla mersmeyer, die krümelbande„Das ist die Krümelbande. Und das ist Lina. Lina tanzt und singt gerne den ganzen Tag. Aber es gibt auch Tage, da hat Lina Riesenwut. Riesige Waschbärenwut!“

Das Gefühlsleben kleiner Kinder ist an manchen Tagen eine richtige Berg- und Talfahrt. Dass nicht immer alles so geht, wie man will und wie sich auch unangenehme Dinge meistern lassen, können sie im Bilderbuch „Die Krümelbande“ miterleben.

Lina, das kleine Waschbärenmädchen wünscht sich im Winter ihr gelben Sonnenkleid anzuziehen. Weil es draußen jedoch eisig kalt ist, zeigt sich Papa damit aber nicht einverstanden. Er beschließt ihr den sonnengelben Fahrradhelm und die Sonnenbrille aufzusetzen, um dennoch schon erste Sommergefühle aufkommen zu lassen.

Dieter Sperl, An so viele wie mich

h.schoenauer - 08.07.2024

dieter sperl, an so viele wie michStell dir eine Zimmer-große Kiste vor, darin sind lauter Scharniere eingelagert. Wenn du sie einzeln verwendest, kannst du alles damit beweglich und mehrdeutig gestalten. Dieter Sperl verschenkt eine ganze Charge solcher Scharniere, er nennt sie Traumnotizen und es geht um diese bewegliche Naht zwischen Traum- und Tages-Wirklichkeit. „An so viele wie mich“ eignet sich bestens als Titel, denn diese Fügung lässt sich vorne und hinten ausbauen zu einem multiplen Ereignis.

Wahrscheinlich sollte man den Begriff „Traumnotizen“ verschiedenen Bedeutungsfeldern zuweisen, einmal sind es wohl Notizen, die jemand im Umfeld eines Traums gestaltet hat, andererseits kann es sich auch um Notizen handeln, die Lesende zum Träumen bringen, ja sogar der Autor selbst kann die Texte für höchst gelungen halten, im Sinne von Traum-Urlaub, Traum-Angebot. Und schließlich weist der Traum-Begriff auf etwas Kollektives hin, das von der Gesellschaft teils träumerisch, teils traumatisiert bewältigt wird – die Pandemie.

Theresa Bell, Sepia und das Erwachen der Tintenmagie

andreas.markt-huter - 06.07.2024

theresa bell, sepia und das erwachen der tintenmagie„An Sepia. Wenn du diesen Brief liest, bedeutet das, dass du bald zwölf Jahre alt bist und es dir erlaubt ist, das Graue Haus zu verlassen. Aus diesem Grund möchte ich dich einladen, das überaus edle und ehrbare Handwerk der Buchdruckerei zu erlernen. Die Druckerei Silbersilbe freut sich, dich als ihren neuen Lehrling willkommen zu heißen.“ (S. 9)

Sepia lebt seit ihrer frühesten Kindheit im Waisenhaus, das als das „Graue Haus“ bezeichnet wird. Als sie eines Tages einen mysteriösen Brief erhält, kennt ihre Überraschung keine Grenze, als sie bemerkt, dass der Brief vom berühmtesten Buchdruckermeister in Flohall stammt. Dieser lädt sie ein, in seiner außergewöhnlichen Werkstatt eine Buchdruckerlehre zu beginnen.

Andreas Niedermann, Alte Schule - Blumberg 3

h.schoenauer - 05.07.2024

andreas niedermann, alte schuleDer Dichter ist in die Berge abgehauen und gilt als verschollen, das Publikum ist ungeduldig, es hat zwei Bücher über schwere Helden-Entgleisung gelesen und will wissen, wie die Geschichte zu Ende geht. Die Heldin „Blumberg 3“ sitzt in der Psychiatrie und und bietet in hellen Momenten an, ihr kriminelles Leben fertig zu erzählen. – Eine ideale Ausgangsposition für einen Roman, als ein Verleger den erlösenden Schreibauftrag vergibt, um endlich alle von der Last der nicht-erzählten Geschichte zu erlösen.

Andreas Niedermann lässt das Konzept für seinen „Roman noir“ knapp durchschimmern als eingedampfte Literaturtheorie: „Bücher entstehen aus Büchern, Leben und Lügen.“ (86)

Doug Salati, Ein Tag am Meer

andreas.markt-huter - 04.07.2024

doug salati, ein tag am meer„Sommer in der Stadt, stickige Gehsteige, zertrümmerter Asphalt. Sirenen schrillen, viel zu heiß, kann nicht sitzen oder schnüffeln oder warten, überall Gedränge. Zu eng! Zu laut! Zu viel! Schluss!“

Ein kleiner Dackel spaziert mit seinem Frauchen durch New York. Es ist Sommer und die Hitze macht den Weg durch die überhitzten stickigen Straßen immer unerträglicher, bis der Dackel einfach nicht mehr weiter will und streikt.

Die Situation für das arme Tier wird immer unerträglicher und es kann nur mit viel Mühe seinem Frauchen durch die überfüllten Straßen folgen. Am Ende wird es dem Dackel zu viel und er bleibt demonstrativ mitten auf dem Zebrastreifen der Fahrbahn liegen. Er jetzt wird seinem Frauchen klar, dass sie das arme Tier hoffnungslos überfordert hat.

Brane Mozetič, Banalien

h.schoenauer - 03.07.2024

brane mozetic, banalien„Man hat mir nichts gegeben, was mir helfen würde zu existieren. Weder Glauben noch Hoffnung, um zu bereuen, zu bitten und erlöst zu werden.“ (45) Brane Mozetič gilt als der am meisten übersetzte slowenische Autor der Gegenwart, das hat mit seinen Themen zu tun, seiner Beharrlichkeit und der Ortsungebundenheit seiner Lyrik.

Seit zwei Jahrzehnten ist er mit seinen „Banalien“ in der Literatur unterwegs, die „Ur-Banalien“ erweckten bereits 2003 großen Furor, weil seine Gedichte zwar wie Texte aussehen, in Wirklichkeit aber Verfahrensweisen sind.

Ann Leckie, Der Rabengott

andreas.markt-huter - 02.07.2024

ann leckie, der rabengott„Wenn du es vorher noch nie erlebt hattest, dann erlebtest du es jetzt. Ich glaube, es hat dich erschreckt oder verängstigt, denn während dein Blick immer noch auf Mawat gerichtet war, wichst du einen Schritt zurück und legtest eine Hand auf die Wand, als müsstest du dich abstützen. Dann drehtest du den Kopf und starrtest deine Finger an, schließlich deine Füße, als spürtest du das schwache knirschende Vibrieren in den gelblichen Steinmauern. Konntest du mich hören, Eolo? Kannst du mich jetzt hören? Ich spreche zu dir.“ (S. 27 f)

Im Königreich Iraden wacht der Rabengott, in einem Turm in der Hafenstadt Vasta über das Reich. Über einen Raben als Instrument kommuniziert er mit seinem menschlichen Statthalter, dessen Leben eng an das Leben des Vogels des Rabengottes gebunden ist und mit dem Tod des Vogels sterben muss. Als Mawat, der Kommandeuer der Armee Iradens, erfährt, dass sein Vater, der Statthalter erkrankt ist, kehrt er zurück und muss feststellen, dass sein Onkel Hilbal die Rolle des mächtigen Statthalters eingenommen hat.

Dominika Meindl, Selbe Stadt, anderer Planet

h.schoenauer - 01.07.2024

dominika meindl, selbe stadt, anderer planetWenn das gesellschaftliche Leben eine Inszenierung ist, muss dann nicht auch das Individuum sich selbst inszenieren? Macht es einen Unterschied, ob eine Fassade historisch gewachsen oder von einer KI gestaltet vor der Selfie-Kamera auftaucht? Ist ein absolutes System wie die Volksrepublik China vielleicht ähnlich organisiert wie die für den Tourismus ausgereizte Region rund um Hallstatt?

Dominika Meindl greift als Journalistin und Fiktionsmanagerin (= Autorin) auf den weltweit verbreiteten Plot zurück, wonach in China für einen Tourismus-Park das urtypische Kleinod Hallstatt nachgebaut worden ist. Andererseits findet im nahen Bad Ischl gerade eine kaiserliche Nachinszenierung des Habsburgermythos für das Projekt Kulturhauptstadt 2024 statt.