Europäische Initiativen zur Leseerziehung: Das ADORE-Projekt - Teil 1

Um die von der EU angestrebte ambitionierte Reduktion des Anteils an Jugendlichen mit Leseschwäche zu erreichen, hat die EU-Kommission ein Socrates-Programm mit der Zielsetzung ausgeschrieben: „Das Phänomen des schlechten Lesens und der schlechten Leser muss besser verstanden werden, um das Problem bekämpfen zu können.“

Eine konkrete Maßnahme dazu ist das ADORE-Projekt, das zwischen 2006 – 2008 ins Leben gerufen wurde.

Immer mehr kristallisiert sich der latent hohe Anteil an Jugendlichen mit Leseschwäche zu dem zentralen Problem der Bildungspolitik in Europa heraus. "Auf diesem Gebiet herrscht große Ratlosigkeit, weil überhaupt keine Fortschritte gemacht werden", erklärte die Lüneburger Projektleiterin Christine Garbe vom „Institut für Deutsche Sprache und ihre Didaktik“ anlässlich der Abschlusskonferenz zum ADORE-Projekt am 24. Oktober 2008.

"Wir wollen uns nicht länger damit begnügen, die Defizite aufzuzeigen", so Garbe, "das macht die OECD schließlich jedes Jahr wieder. Wir entwickeln Schlüsselelemente, wie leseschwachen Jugendlichen geholfen werden kann." Die Ergebnisse des Projekts wurden der EU-Kommission als Expertise für die Ausarbeitung von Bildungsprogrammen in Europa zur Verfügung gestellt.

Teaching Adolescent Struggling Reader – Unterricht von Jugendlichen mit Leseschwäche. Eine vergleichende Studie guter Praxis in europäischen Ländern der Leuphana Universität Lüneburg, Bericht 1. Dezember 2009 von Christine Garbe, Martin Gross, Karl Holle, Swantje Weinhold

Die zentralen Ergebnisse des Projekts kurz zusammengefasst

Es gibt große Defizite bei den Lehrkräften, da diese nicht dazu ausgebildet sind Leseschwächen festzustellen und Lesekompetenz zu vermitteln. Es gibt aber auch Ausnahmen, wie z.B. in Norwegen, wo leseschwache SchülerInnen beispielsweise einen gesetzlichen Anspruch auf eine staatliche Förderung haben. Der politische Wille und das gesellschaftliche Verständnis, um für ausreichend gesetzliche, finanzielle und personelle Ressourcen zu sorgen, ist zunächst eine wichtige Voraussetzung zur Förderung leseschwacher Schülerinnen und Schüler.


Der hohe Anteil an Jugendlichen mit schlechten Leseleistungen wird von der EU  als das Bildungsproblem Nr. 1 verstanden.

Wichtig ist es, Tests und Beobachtungsverfahren in den Schulen als Hilfe für die Schülerinnen und Schüler einzusetzen, mit denen die Lehrkräfte die Stärken und Schwächen der Kinder und Jugendlichen einschätzen können. Der wesentliche Faktor liegt jedoch in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte. Hier ist es wichtig, ein umfassendes Wissen auf dem Gebiet der Lesekompetenz aufzubauen, was aber nicht nur für die Lehrkräfte des muttersprachlichen Unterrichts, sondern für alle FachlehrerInnen in allen Schulstufen gelten soll.

Die Ergebnisse des ADORE-Projekts im Detail

Im Rahmen des ADORE-Projekts wurde zwischen 2006 – 2008 in 11 Ländern der Leseunterricht für leseschwache Jugendliche erforscht und erfolgreiche Beispiele (good practice) für eine gute Förderung der Lesekompetenz dieser Zielgruppe gesammelt. LeseexpertInnen aus Universitäten und Lehrer-Bildungseinrichtungen aus Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Italien, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, der Schweiz und Ungarn haben sich am Projekt beteiligt.

Gute Beispiele für einen erfolgreichen Leseunterricht in den teilnehmenden Ländern wurden recherchiert und analysiert. Aus dem anschließenden Vergleich dieser Praxisbeispiele und seiner Einbindung in die internationale lesedidaktische Forschung konnten Schlüsselelemente für eine gute Praxis sichtbar gemacht werden.

Um diese Schlüsselelemente wirksam umsetzen zu können, müssen laut Studie folgende Problembereiche bearbeitet werden:

Das Verständnis von Lesekompetenz

In allen Ländern, mit Ausnahme der nordischen Länder, wird Lesekompetenz als eine Fähigkeit betrachtet, „die einmalig in den ersten Jahren der Grundschule erworben wird und danach nicht mehr systematisch weiterentwickelt werden muss.“ (2) Die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte weisen hingegen in eine andere Richtung. Lesekompetenz muss auch nach einem Erst-Erwerb, über verschiedene Altersstufen, in verschiedenen Medien und Fachsprachen systematisch“ weiterentwickelt werden. (2)

Sichtweise auf leseschwache Jugendliche
Leseschwache Jugendliche werden oft gerne als „Nicht-LeserInnen“ betrachtet, denen die ausreichenden Grundlagen für ihre Lesefertigkeit und Lesemotivation fehlen. Eine solche Sichtweise steht jedoch einem effektiven Unterricht für leseschwache Jugendliche entgegen. Es ist vielmehr wichtig einzusehen, dass es sich um Leserinnen und Leser handelt, die zwar Lesen können aber Probleme beim Lesen haben. Sie kommen vor allem mit dem „Lesen um zu lernen“ noch nicht alleine zurecht. Hier organisiert ein effektiver Unterricht eine differenzierte Unterstützung der vorhandenen Stärken von leseschwachen Jugendlichen. (2)

Grundverständnis von Unterricht

In den meisten Ländern ist es üblich Unterricht als Vermittlung fachlicher Inhalte zu verstehen, wobei die Lernziele und Beurteilungskriterien von außen festgelegt werden. Das Grundprinzip eines solchen Unterrichts lautet: „lernen von / und wissen über etwas“. Diese Form von Unterricht gehört nicht mehr zum neuesten Stand des unterrichtswissenschaftlichen Diskurses. Es hat sich als wenig zielführend erwiesen, einem schwachen Schüler ständig vor Augen zu führen, wie schwach er im Vergleich zu anderen Schülern ist. Im Grunde wird die ohnehin schon problematische Selbstbeurteilung seiner Fähigkeiten lediglich verstärkt.

Lesekompetenz muss auch nach einem Erst-Erwerb, über verschiedene Altersstufen, in verschiedenen Medien und Fachsprachen systematisch“ weiterentwickelt werden. Foto: Martina Frick

Ein Unterricht der sich an den neuesten Ergebnissen der Forschung orientiert, müsste hingegen nicht die Inhalte, sondern die Kompetenzen für das fachliche Lernen vermitteln. Hier tritt das „lernen für / wissen wie“ in den Vordergrund des Unterrichts. Lehrkräfte sollen „realistisch und zugleich motivierend am Selbstkonzept der SchülerInnen zu arbeiten verstehen.“ (2)

Die Lehrerexpertise im Bereich der Lesekompetenz

Einer der Hauptgründe für einen ineffektiven Unterricht in der Sekundarstufe, sind die fehlenden Kenntnisse, wie Leseschwächen festgestellt werden können und wie eine systematische Förderung von Lesekompetenzen erfolgen soll.

Aus der Forschung ist bekannt, dass etwa im 5. Schuljahr der Übergang vom „Lesen um zu lesen“ zum „Lesen um zu lernen“ erfolgt. Dieser Umstand macht den Leseunterricht in den Sekundarstufen anspruchsvoller, weil es hier viel mehr als früher um das Verstehen von Texten, deren kritische Beurteilung und die Anwendung des Gelesenen geht, um für das Fach zu lernen. Da die SchülerInnen für die verschiedenen Fächern unterschiedliche Kompetenzen im Lesen benötigen, brauchen nicht nur Lehrerinnen und Lehrer des Sprachunterrichts sondern alle Lehrkräfte Kenntnisse über die effektive Vermittlung von Lesekompetenz.

Lesestoffe und Curricula

In den Lehrplänen mancher Länder ist die Vermittlung von Lesekompetenzen ganz eng auf eine kanonische Literatur und die dazugehörigen Unterrichtshilfen ausgerichtet. Diese Form des Unterrichts wird gerade den Bedürfnissen von leseschwachen Jugendlichen aber nicht gerecht. Bei der Auswahl von Lesestoffen im muttersprachlichen Unterricht sollen Fragen und Interessen der Jugendlichen berührt werden, um ihre Lesekompetenzen so zu entwickeln, „dass sie durch das Lesen von Literatur und anderen Texten zu befriedigenden Antworten auf ihre Fragen kommen können.“ (2) Das gelingt durch Texte, die an die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler angepasst sind.

Finanzielle und rechtliche Ressourcen

Zwischen den verfügbaren finanziellen und personellen Ressourcen einer Schule und der Qualität der Bildungseinrichtung besteht ein Zusammenhang. Einen Einfluss auf die Qualität des Unterrichts hat beispielsweise ein juristischer Anspruch von SchülerInnen auf individuelle Förderung, wie er in Norwegen vorhanden ist.

Forschung und Wissenstransfer

In den angelsächsischen Ländern hat die Leseforschung eine lange Tradition, die in den untersuchten Ländern keine Parallelen findet. Nur in wenigen Ländern besteht zudem eine enge Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Umsetzung in die Bildungsplanung und den konkreten Unterricht, d.h. der systematische Austausch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und pädagogischer Praxis kommt viel zu kurz.

Grundlegende Wertorientierung in den Bildungssystemen

Die Schulen in den verschiedenen Ländern werden von unterschiedlichen Wertorientierungen geprägt, wobei sich zwei zentrale Prinzipien feststellen ließen: das Unterstützungsprinzip und das Leistungsprinzip

Bildungssysteme nach dem Leistungsprinzip weisen ein deutlich höheres Maß an administrativer Differenzierung in verschiedene Schultypen auf (Beispiel Deutschland: Hauptschule, Realschule, Gymnasium) und üben einen deutlich stärkeren Selektionsdruck aus als Bildungssysteme nach dem Unterstützungsprinzip. Dass leseschwache SchülerInnen in unterstützungsorientierten Bildungssystemen bessere Chancen haben, überrascht nicht. Interessant ist allerdings, dass alle SchülerInnen in unterstützungsorientierten Bildungssystemen besser abschneiden als in Ländern mit starker Leistungsorientierung und Selektivität. Beispielhaft hierfür ist das Bildungssystem in Finnland. (3f)

Die Anforderungen an die Lesefertigkeiten haben im Vergleich mit den Anforderungen z.B. vor 60 Jahren enorm zugenommen. Unsere hochtechnologischen Wissens- und Mediengesellschaft stellt weitaus höhere Ansprüche an die Lesefähigkeiten von Menschen als es früher der Fall war. Damit sind aber auch die Forderungen an die Schulen deutlich gestiegen. Die Vermittlung von Lesekompetenz kann nicht mehr nur als Aufgabe des muttersprachlichen Unterrichts betrachtet werden. Lesen muss als Grundlage des Lernens in allen Unterrichtsfächern vermittelt werden.

Während es in vielen angelsächsischen und nordeuropäischen Ländern bereits seit 20 bis 30 Jahren ein Problembewusstsein in Bezug auf die Lesekompetenz gibt, das sich auch am Stand der internationalen Leseforschung orientiert, ist dieses Bewusstsein in den anderen Ländern erst als Folge der PISA-Studien entstanden. In vielen Ländern finden wir daher bis heute keine systematischen Strategien zur Leseförderung, die über die Grundschule hinausgehen. Es fehlen sowohl professionelle Organisationsformen, als auch Netzwerke und Publikationsorgane oder Internetplattformen, wo Information und ein Austausch zwischen Forschung und Schule stattfinden kann.

Der Lehrerfortbildung kommt für den Bereich der Leseförderung eine wesentliche Aufgabe zu. Foto: Markt-Huter

 

Defizite in der Lehrbildung und im Leseunterricht der weiterführenden Schulen

Gerade im Bereich der Lehrerbildung und des Leseunterrichts mussten die AutorInnen des Projekts in den meisten europäischen Ländern große Defizite feststellen. So spielt die Leseforschung sowohl an den Universitäten als auch im Bereich der Lehrerausbildung keine Rolle, wenn man von der Ausbildung für den Elementarunterricht in der Grundschule einmal absieht.

Auch die Tatsache, dass das Lesen in allen Klassenstufen und in allen Unterrichtsfächern komplexe und fachspezifische Anforderungen an die Schüler stellt, wird in den meisten Schulsystemen kaum berücksichtigt. Lesen und Schreiben zu lehren wird immer noch vor allem als Aufgabe der Grundschule in den ersten Schuljahren verstanden. Für die weiterführende Schulbildung wird die Fähigkeit lesen zu können, einfach stillschweigend vorausgesetzt. Der Fachunterricht wie auch der Unterricht für die Muttersprache konzentrieren sich auf die Vermittlung von Fachwissen.

All das steht in klarem Gegensatz zu den Erkenntnissen der internationalen Forschung, die besagen, dass Lesekompetenzen und Schreibkompetenzen kontinuierlich und fachbezogen in allen Unterrichtsgegenständen weiterentwickelt werden müssen. Es überrascht daher wenig, dass es in der Lehrerausbildung der meisten europäischen Länder auch kein „systematisches durchgehendes Lesecurriculum für die Schulen“ (6) gibt, das über alle Unterrichtsfächer und alle Schulstufen hinweg die Vermittlung von Lesekompetenzen beschreibt.

Erschwert wird ein durchgehendes Lesecurriculum meist dadurch, dass sich in vielen Ländern die Trennung von Grundschule, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II auch in getrennten Curricula widerspiegelt, was fortlaufende Ausbildungsmodelle für die Lesekompetenz erschwert.

Ein nicht minder großes Problem des Leseunterrichts besteht darin, dass den Lehrkräften weitgehend die ausreichenden Kenntnisse fehlen, um Leseschwächen richtig diagnostizieren zu können. Hier fehlt in den meisten Ländern eine „systematisch verankerte Leseforschung, deren Aufgaben unter anderem in der Beratung von Curricula und Bildungsstandards, der Entwicklung diagnostischer Instrumente und Assessment- sowie Evaluationsverfahren und der Weiterqualifizierung von Lehrkräften liegen müsste.“ (7)

Für Jugendliche, die aufgrund ihrer Leseprobleme ihre Interessen und Potenziale im Fachunterricht nicht wirklich entfalten können, weil sie die geschriebenen Inhalte oft erst gar nicht verstehen, gibt es in den meisten Bildungssystemen nach der Grundschule keine weitere Unterstützung mehr. Als Folge davon sind die Leistungen solcher Schülerinnen und Schüler auch in den Fachbereichen häufig schwach und bleiben viele Bildungspotenziale ungenutzt. Dass auf diese Weise Bildungsabschlüsse und berufliche Möglichkeiten verloren gehen, ist nicht nur als ein persönliches Unglück zu werten, sondern muss auch in seiner gesellschaftlichen Tragweite gesehen werden.

 

Weiterführende Links:
ADORE-Project
„ADORE – Teaching Adolescent Struggling Readers. Zusammenfassung“

 

>> Europäische Initiativen zur Leseerziehung: Das ADORE-Projekt - Teil 2

 

Andreas Markt-Huter, 07-02-2013

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