Europäische Initiativen zur Leseerziehung: Das ADORE-Projekt - Teil 2

Um die von der EU angestrebte ambitionierte Reduktion des Anteils an Jugendlichen mit Leseschwäche zu erreichen, hat die EU-Kommission ein Socrates-Programm mit der Zielsetzung ausgeschrieben: „Das Phänomen des schlechten Lesens und der schlechten Leser muss besser verstanden werden, um das Problem bekämpfen zu können.“

Eine konkrete Maßnahme dazu ist das ADORE-Projekt, das zwischen 2006 – 2008 ins Leben gerufen worden war.

Teaching Adolescent Struggling Reader – Unterricht von Jugendlichen mit Leseschwäche. Eine vergleichende Studie guter Praxis in europäischen Ländern der Leuphana Universität Lüneburg, Bericht 1. Dezember 2009 von Christine Garbe, Martin Gross, Karl Holle, Swantje Weinhold

"Wir wollen uns nicht länger damit begnügen, die Defizite aufzuzeigen", so Garbe, "das macht die OECD schließlich jedes Jahr wieder. Wir entwickeln Schlüsselelemente, wie leseschwachen Jugendlichen geholfen werden kann." Die Ergebnisse des Projekts wurden der EU-Kommission als Expertise für die Ausarbeitung von Bildungsprogrammen in Europa zur Verfügung gestellt.

 

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Das ADORE-Projekt - Teil 2

 

Unterricht für Jugendliche mit Leseschwäche

Vor diesem Hintergrund nähert sich das ADORE-Projekt mit einer neuen Fragestellung und einem neuen Forschungsansatz. Während Studien zur Bildungsreform meist den Eindruck erwecken, dass es darum gehe die Leistungen von SchülerInnen zu steigern, die außerdem standardisiert gemessen werden sollen, interessiert sich das ADORE-Projekt für die Frage, was ein Unterricht aufweisen muss, um Jugendliche mit Leseschwächen zu fördern. Dabei steht vor allem die Unterrichtspraxis in den weiterführenden Schulen im Mittelpunkt des Interesses.

Dem Projekt liegt die Überzeugung zugrunde, dass es gezielter und langfristiger Maßnahmen der Institution Schule bedarf, um die Defizite von Jugendlichen mit Leseschwierigkeiten zu beheben. Im Rahmen des empirischen Teils des ADORE-Projekts wurden in den zwölf teilnehmenden Ländern nach Beispielen für eine gute Förderung von Jugendlichen mit Leseschwächen gesucht. Mit Teams aus jeweils vier Ländern wurden an ausgewählten Schulen Befragungen und Untersuchungen durchgeführt, aus denen sich ein interessantes Bild ergab, wie der Schulunterricht in den einzelnen Ländern funktioniert.

Traditioneller Unterricht

Diese Form des Unterrichts ist sequenziell organisiert und lehrerzentriert, das heißt Fachgebiete werden aneinandergereiht und die Lernziele und Leistungsanforderungen von den Lehrkräften bestimmt, die sich wiederum an externe Vorgaben wie Bildungsstandards und Curricula orientieren.

Von den externen Vorgaben hängen die Auswahl von Methoden, Materialien, die Durchführung des Unterrichts und die Leistungsmessung ab. Die von den SchülerInnen abgefragten Leistungen werden mit den vorher definierten Leistungsanforderungen verglichen und mit Noten bewertet.

Eine solche Unterrichtsform ergibt sich als Folge eines Schul- und Bildungssystems, in dem das Lernen von fachlichen Inhalten als vorrangiges Ziel gilt. In diesen sogenannten leistungsorientierten Systemen haben jene Schüler schulische Erfolge, die vor allem diese fachlichen Inhalte beherrschen.

Für Jugendliche mit Leseschwächen haben leistungsorientierte Systeme weitreichende Folgen. Zunächst erleben sie nur ihre Misserfolge, was ihr Selbstbild als schlechte SchülerInnen untermauert. Das wiederum lenkt von der Konzentration auf ihre Leseschwäche ab, die es im Grunde zubeseitigen gilt. Zudem erfolgt eine Analyse ihrer Stärken und Schwächen erst nach dem Unterricht, weshalb auch eine unterrichtsbegleitende oder präventive Förderung nicht möglich ist. Folgen daraus sind Förderunterricht, Nachhilfe, Wiederholung von Klassen und die Abstufung in leistungsniedere Schulstufen. Auch bei guten Beispielen einer Förderung besteht das Problem, dass in einer begrenzten Zeit sowohl grundlegende Kompetenzen ausgebildet als auch fachliche Inhalte nachgearbeitet werden sollen.

Unterstützungsorientierter Unterricht

Im Gegensatz zum traditionellen Unterricht werden die Lernziele, Unterrichtsmethoden und die Auswahl der Materialien von der Diagnose der Stärken und Schwächen der SchülerInnen abhängig gemacht, die auch mit den SchülerInnen besprochen werden. Als unterrichtsbegleitende Grundlage dienen fortlaufende Bewertungen, mit denen die Lernziele und Methoden immer wieder mit den Lernbedürfnissen und Fähigkeiten der SchülerInnen abgeglichen werden.

Das ADORE-Projekt untersuchte anhand guter Unterrichtsbeispiele aus ganz Europoa die Frage, was ein Unterricht aufweisen muss, um Jugendliche mit Leseschwächen zu fördern. Foto: Martina Frick

In diesen Schul- und Bildungssystemen, die auf dem Prinzip der Unterstützung und Förderung der lernenden SchülerInnen beruhen, gilt es als primäres Ziel, Kompetenzen auszubilden, die für das Lernen fachlicher Inhalte benötigt werden. Während leistungsorientierte Bildungssysteme bei allen SchülerInnen einen gleichförmigen Entwicklungsverlauf ihres Lernens voraussetzen, gehen unterstützungsorientierte Systeme von diskontinuierlichen, individuellen Entwicklungsverläufen bei SchülerInnen aus. Schüler entwickeln sich mit Unterstützung einer Lehrperson von einem bestehenden zu einem höheren Entwicklungsstand hin. Die Lehrperson vermittelt dabei aber durchaus die Kompetenzanforderungen der Gesellschaft.

Ziel: Jugendliche mit Leseschwäche sollen ihr Selbstbewusstsein als Leser und Lernende verändern

Mangelnde Motivation und ein wenig entwickeltes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sind die Kennzeichen von leseschwachen SchülerInnen, die bereits jahrelang Misserfolge erleben mussten. Viele von ihnen überdecken ihre Probleme, indem sie von sich selbst behaupten, gar nicht lesen zu wollen.

Um solche Lernblockaden zu überwinden, ist es vorrangig das Selbstkonzept von leseschwachen SchülerInnen zu verändern. Die üblichen kurzfristigen Maßnahmen, wie „Lernen für den Test“, zeigen keine nachhaltige Wirkung. Ziel der Leseförderung muss es sein, die SchülerInnen zu unabhängigen Lesern und Lernern zu machen.

Schlüsselelemente für einen guten Unterricht

Im Rahmen des ADORE-Projekt wurde der sogenannte „ADORE Reading Instruction Cycle“ entwickelt. Dieses Modell zeigt auf, welche Schlüsselelemente es für einen guten Unterricht leseschwacher Jugendlicher zu berücksichtigen gilt.

Schlüsselelement 1: Unterstützendes Interaktionsklima schaffen

Dass sich Schüler in der Klasse wohlfühlen und die Interaktion zwischen ihnen und auch mit den Lehrern angstfrei funktioniert, ist wichtig, damit leseschwache Schüler erst über ihre Probleme sprechen und sie bearbeiten können. Besonders effektiv für das Lernen sind Lehrer-Schüler-Dialoge. Dabei zeigt und erklärt die Lehrkraft den Schülern zunächst bestimmte Strategien. Danach werden die Schüler so lange bei den Übungen unterstützt, bis ihnen die Strategien in Gruppen- oder Partnerarbeiten zur Routine werden.

Schlüsselelement 2: Bewertungen zur Diagnose einsetzen

Bewertungen sollen helfen, die Unterrichtsentscheidungen auf die Lernbedürfnisse einzelner SchülerInnen abzustimmen und die Grundlage für die kontinuierlichen Gespräche zwischen Lehrern und Schülern über die erzielten Lernfortschritte bilden.

Schlüsselelement 3: Schüler in die Planung ihrer Lernprozesse einbeziehen

Vor allem für Schüler mit Leseschwäche ist es besonders wichtig, ihre meist negative Einstellung zum Unterricht zu verändern. Dies gelingt, wenn die Zielsetzungen des Unterrichts nicht von außen verordnet, sondern mit den SchülerInnen gemeinsam festgelegt werden, was der Stärkung ihres Selbstvertrauens dient.

Schlüsselelement 4: Anbieten von Lesestoffe, die zu den Lernbedürfnissen passen

Unterricht, der die Schüler in den Mittelpunkt stellt, legt großen Wert auf passende Lesestoffe, die auf den kulturellen Kontext und den Bildungshintergrund Rücksicht nehmen. Dass die Lehrkraft bei der Auswahl der Lektüre einen großen Spielraum hat, ist dabei ebenso wichtig, wie die nötige Ausbildung und Weiterbildung, um die verschiedenen Bedürfnisse der SchülerInnen auch berücksichtigen zu können.

Schlüsselelement 5: Die SchülerInnen in Texte verstricken

Um die Freude am Lesen und das Textverstehen entwickeln zu können, müssen sich die Jugendlichen mit Leseschwäche für die Texte auch engagieren, d.h. sie müssen in die Texte verstrickt werden und erleben, dass Lesen Freude bereiten und interessant sein kann. Dies passiert immer dann, wenn ein Leser vollkommen in seine Leseaktivität vertieft ist, aber auch wenn die Inhalte eines Textes auf die eigenen Erfahrungen und Gefühle bezogen werden können. Zusätzlich fördern Gespräche über Texte, Bücher u.a. das Textverständnis und die Fähigkeiten der LeserInnen, Texte zu interpretieren.

Schlüsselelement 6: Kognitive und metakognitive Lesestrategien vermitteln

Jugendliche mit Leseschwäche sind meist nicht in der Lage ihre Leseschwierigkeiten selbst zu erkennen, sie lesen sie in der Regel wenig und haben nur ein geringes Selbstvertrauen in ihre Lesefähigkeiten. Die wichtigsten Lesestrategien, die beim Lesen helfen sollen, lassen sich in drei Gruppen unterteilen.

1. Leseziele sollen vor dem Lesen klar festgelegt werden. Der Text sollte nach allgemeinen Informationen kurz abgesucht und ein bestehendes Wissen aktiviert werden

2. Lesestrategien sollen dabei helfen, die wichtigsten Textaussagen zu erkennen, Zusammenhänge herzustellen und Vorhersagen zu treffen. Dabei soll das eigene Textverständnis laufend überprüft werden.

3. Nach dem Lesen soll der Text mit Hilfe von Lesestrategien zusammengefasst werden, es sollen Schlussfolgerungen gezogen und das Verstandene kritisch beurteilt werden.

Es gilt als eine der größten Schwierigkeiten beim Unterrichten leseschwacher Jugendlicher der Sekundarstufe, ihnen das Textverständnis bewusster und strategischer werden zu lassen. Dazu müssen den SchülerInnen metakognitiver Strategien vermittelt und gemeinsam mit ihnen selbstregulierende Fähigkeiten entwickelt werden. Auch dafür ist eine systematische Weiterbildung des Lehrpersonals wieder von großer Bedeutung.

Schlüsselelement 7: Eine anregende Leseumgebung gestalten

Für eine anregende Leseumgebung braucht es Räumlichkeiten, die das Lesen stimulieren und deren vielfältige Angebote auch auf die unterschiedlichen Lesebedürfnisse von Mädchen und Jungen Rücksicht nehmen.

Die folgenden Schlüsselelemente wurden aus der Analyse von Konzepten und Gesprächen mit LehrerInnen, und Mitgliedern von Kollegien und der Schulleitung abgeleitet. Sie betreffen vor allem Maßnahmen und strukturellen Gegebenheiten auf Schulebene, regionaler und nationaler Ebene.

Gerade auch die Schulbibliothek eignet sich besonders gut, um verschiedenste Formen des gemeinsamen Lesens zu praktizieren, die aus dem Schulalltag ausbrechen. Foto: Markt-Huter


Schlüsselelement 8: Partizipation der Lehrkräfte und Engagement der Schulleitung

Von der Art und Weise wie Schulleitung und Kollegium zusammenarbeiten, hängt es weitgehend ab, ob ein guter Unterricht funktionieren kann. Theoretisch gute Konzepte können beispielsweise misslingen, weil sie vom Kollegium nicht entsprechend unterstützt werden. Es ist daher wichtig, dass sich die Lehrkräfte mit den Programmen identifizieren.

Die Partizipation der Lehrkräfte beinhaltet zwei wichtige Aspekte:

1. Die Motivation bzw. das Engagement der Lehrkräfte für die Sache der Leseförderung
2. Die kontinuierliche Weiterbildung aller Beteiligten für die Vermittlung von Lesekompetenzen.

Schlüsselelement 9: Multi-professionelle Unterstützung der Lehrkräfte

Die Hilfe für Jugendliche mit Leseschwäche muss in einem Verbund von verschiedenen Experten erfolgen, welche die Lehrkräfte unterstützen. Dazu gehören Sonderpädagogen, Schulpsychologen und Sozialarbeiter, die bei Problemen Ansprechpartner für Schüler und Lehrer sind. Wenn es um das richtige Angebot an Lesestoffen geht, braucht es eigene Schulbibliotheken oder eine enge Zusammenarbeit mit öffentlichen Bibliotheken, die über qualifiziertes Personal verfügen. Die Diagnostik von Leseschwächen und die Evaluation von Programmen sollte durch wissenschaftliche Einrichtungen unterstützt werden.

Schlüsselelement 10: Kommunale Unterstützung der Schulen

Leseförderung soll als Gemeinschaftsaufgabe verstanden werden, für die sich Politik und Gesellschaft interessieren. Beispiele dafür sind Kooperationen zwischen lokalen Zeitungen, Bibliotheken und Schulen.

Schlüsselelement 11: Rechtliche und finanzielle Ressourcen

„Die Schlussfolgerung unserer transnationalen Reisen lautet daher:
Gute Programme zu einer nachhaltigen Förderung von ASR bedürfen verlässlicher, langfristig kalkulierbarer finanzieller und personeller Ressourcen; und solche werden nur bereitgestellt, wenn sie politisch gewollt und – als Rechtsanspruch - gesetzlich verankert sind.“ (16)

Schlüsselelement 12: Leseforschung und Wissenstransfer

Während die Grundlagenforschung über psychologische, kognitive u.a. Aspekte des Lesens weit entwickelt sind, gibt es hingegen Nachholbedarf hinsichtlich einer praxisorientierten Forschung, die einerseits Konzepte und Instrumente entwickelt und diese andererseits wissenschaftlich evaluiert. Diese Verbindung zwischen Praxis und Wissenschaft gelingt in jenen Ländern am besten, in denen es ein Zentrum für Leseforschung und Leseförderung gibt.

Schlüsselelement 13: Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften

Damit Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler im Sinne eines unterstützenden Unterrichtskonzepts unterrichten können, müssen sie über die notwendigen Fachkompetenzen und didaktischen Fähigkeiten verfügen. Bisher gibt es im Rahmen der Lehrerausbildung in kaum einem Land eine spezifisch lese- und schreibdidaktische Schulung. Dabei geht es vor allem um die Förderung der Lesefähigkeit über die Grundschule hinaus, die für die Ausbildung aller Fachlehrer grundlegend sein sollte.

Abschließende Bemerkung:

„Es gibt aus der Forschung wie auch aus der Praxis zahlreiche Belege für die Erkenntnis, dass Leseförderung langfristig nur erfolgversprechend ist, wenn sie einen systemischen Ansatz zugrunde legt. Verbesserungen, die sich lediglich auf einzelne key elements beziehen, werden immer nur zu Teil-Erfolgen führen.“ (18)

 

Weiterführende Links:
ADORE-Project
„ADORE – Teaching Adolescent Struggling Readers. Zusammenfassung“

 

>> Europäische Initiativen zur Leseerziehung: Das ADORE-Projekt - Teil 1

 

Andreas Markt-Huter, 07-02-2013

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