Günther Loewit, Wie viel Medizin überlebt der Mensch

Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt. Dieser lapidare Satz von Nietzsche lässt sich auch auf Systeme und Einrichtungen auslegen, Politik, Medizin und Bildung haben durchaus auch den Sack der Selbstlüge weit aufgemacht.

Der Haus-Arzt und Schriftsteller Günther Loewit betrachtet in seinem Essay den Moloch Medizin und erzählt daran ein Stück Gegenwart. Denn kaum in einem Bereich lassen sich Träume, Praktiken und Geldströme der Gesellschaft so deutlich beschreiben wie in dieser Medizin, die uns mit Wörtern wie Gesundheit, Glück, Sinn und Tod niemals aus den Krallen lässt.

Günther Loewit erzählt dabei von Betriebsunfällen, wodurch die Medizin selbst es ist, die krank macht, von Krankheiten, die wie Modetrends auftauchen und verschwinden, von der modernen Medizin, die den Menschen in Software und Hardware zerlegt (70) und von der Medizin als Spielball der Geschichte.

Erzählen ist insofern das richtige Wort, als es in der Medizin ziemlich abhandengekommen ist, hier wird heute oft nur mehr gemessen. Damit man sich vorstellen kann, was zwischen Patient, Arzt und System abläuft, sind immer wieder Erzählungen, Fallbeispiele und Fiktio-Protokolle eingefügt. Da quasselt dann ein Patient eine Stunde auf den Arzt ein, lässt diesen nicht zu Wort kommen und geht geheilt aus der Praxis, weil er einmal seinen Stoff loswerden musste.

Ein anderer Patient verlangt eine Pension und ist sauer, als ihm der Hausarzt nicht sofort die entsprechende Krankheit verschreibt. Eine ältere Frau will den Tod ihrer Nachbarin melden und löst einen Helikopter-Einsatz aus, weil es im modernen System nicht mehr möglich ist, einfach zu sterben.

Günther Loewit erzählt mit der Leidenschaft eines Schriftstellers, der sich im Zaum halten kann und von der Materie Bescheid weiß. Es fallen krall-harte Fügungen wie „jemand hat ein Burnout um die Ohren“ oder jemand ist nun „ein frischgebackener Patient“.

„Immer häufiger sterben Menschen nicht an Krankheiten sondern an Therapien.“ (144)
„Der Mensch ist zum lebenslänglichen Patienten geworden.“ (151)
„Die Trennung von Medizin und Staat ist eine Illusion.“ (135)

Wir Leser werden bei der Lektüre automatisch zu Patienten, was aber nicht weiter schlimm ist, weil unser Gesellschaftssystem ohnehin nur Patienten kennt.
Dennoch aber stellt der Autor drei Forderungen an eine Gesellschaft, die vielleicht ab und zu so etwas wie den Menschen im Sinne ihres Denkens hat: Menschen müssen sterben dürfen. – Kinder brauchen ein gesünderes Lebensumfeld. – Die medizinische Versorgung muss neu verstanden werden.

Günther Loewits Buch von einer ziemlich ans Limit gekommenen Medizin schließt nicht aus, dass der Leser durch bloße Lektüre gesund bleibt!

Günther Loewit, Wie viel Medizin überlebt der Mensch.
Innsbruck: Haymon 2012. ( = Haymon tb 117). 280 Seiten. EUR 13,-. ISBN 978-3-85218-917-9.

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Günther Loewit, Wie viel Medizin überlebt der Mensch
Wikipedia: Günther Loewit

 

Helmuth Schönauer, 14-06-2013

Bibliographie

AutorIn

Günther Loewit

Buchtitel

Wie viel Medizin überlebt der Mensch

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Haymon-Verlag

Seitenzahl

280

Preis in EUR

13,00

ISBN

978-3-85218-917-9

Kurzbiographie AutorIn

Günther Loewit, geb. 1958 in Innsbruck, lebt als Arzt und Schriftsteller in Marchegg.