Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang

Bei den wirklich aufregenden Themen geht es meist um richtiges Argumentieren zu einer falschen Zeit.

Norbert Gstrein malt für seine Romane oft ein eigenes Ziffernblatt des Erzählens, worin er die Figuren Gedanken der Unzeit platzieren lässt. „Eine Ahnung vom Anfang“ deutet gleich zweifach in etwas Ungewisses, es handelt sich zum einen um eine Ahnung und keine Gewissheit, zum anderen beginnt zwar etwas, aber es ist noch lange nicht klar, was es genau sein wird.

Im Mittelpunkt steht Anton, ein von den Zeiten gebogener Lehrer, der auf einem Zeitungsbild seinen ehemaligen Lieblingsschüler Daniel zu erkennen glaubt, wie dieser in einem religiösen Wahn offensichtlich eine Bombendrohung abliefert. Ein paar Jahre lang hat sich der Ich-Erzähler Anton an einer Schule in Istanbul eine Außenperspektive verschafft, ehe er jetzt wieder an seiner Stammschule im Tal unterrichtet und zwischen einer Raststation und einer alten Mühle herumirrt.

Vor Jahren hat er mit Daniel ein pädagogisches Grenz-Verhältnis aufgebaut, diesem Musterschüler die Welt erklärt und ihn vor allem mit dem wichtigen Lesestoff versorgt, denn Lesen ist „ein Mittel, die Wahrheit zu finden.“ (236)

Später hat sich Daniel religiösen Überlegungen zugewendet und ist auf einer Israel-Reise offensichtlich radikalisiert worden. Vielleicht hat auch ein sogenannter Reverend die Sache beschleunigt. Neben der Raststation, wo vor einem halben Jahrhundert ein amerikanischer Bomber notgelandet ist, taucht ein Reverend auf und verkündet, dass heuer das Jahr der Entscheidung sein wird.

Während der Lehrer alle Bekannten abklappert um sich von ihnen Genaueres über sich und seinen Daniel erzählen zu lassen, ist nur eines klar, es liegt alles im Vagen.

Darüber, dass man nie den richtigen Ausdruck hat, brauchen wir nicht zu streiten. (35)

Am Schluss kommt es zu einem seltsamen Attentat, halb eine Geschichte von Südtiroler Herz-Jesu-Bumsern, halb eine religiöse Überreaktion auf die kommerziellen Rituale der Alpengesellschaft. Daniel freilich bleibt untergetaucht, es ist auch gar nicht klar, ob er mit der Sache etwas zu tun hat.

Norbert Gstrein greift mit diesem kleinen Figurenset ziemlich fette Themen auf wie etwa die Suche nach der Wahrheit, das Ausformen von Bildung durch Lesen kanonisierter Literatur, das pädagogische Grundvertrauen nahe an der Wissens-Erotik. Überall sind doppelte Böden, schräge Zeitverschiebungen und falsche Fixpunkte eingebaut.

Als Leser wird man von Seite zu Seite tiefer in einen Schlund von Zweifeln und Unsicherheiten gespült. Nichts ist gewiss, das ist gewiss, und dennoch ist alles so real, als ob wir es selbst erlebt hätten. – Ein gigantisches Vexierbild, das kaum eine klare Linie zulässt. Das Leben als Möglichkeitssinn pur!

Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang. Roman.
München: Hanser 2013. 349 Seiten. EUR 22,60. ISBN 978-3-446-24334-7.

 

Weiterführende Links:
Hanser-Verlag: Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang
Wikipedia: Norbert Gstrein

 

Helmuth Schönauer, 06-08-2013

Bibliographie

AutorIn

Norbert Gstrein

Buchtitel

Eine Ahnung vom Anfang

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Hanser Verlag

Seitenzahl

349

Preis in EUR

22,60

ISBN

978-3-446-24334-7

Kurzbiographie AutorIn

Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils/Imst, lebt in Hamburg.