Thomas Schafferer, SELBST. Porträt eines Künstlerlebens

h.schoenauer - 20.01.2025

thomas schafferer, selbstDas Jahr ist ein Teig, aus dem der Künstler unermüdlich seine Kekse heraussticht. Allmählich bildet sich daraus ein Selbst, eingespannt zwischen den Kunst-Schaffenden und den Kunst-Konsumierenden.

Thomas Schafferer arbeitet ein Jahr lang an seinem Selbst, indem er ein strenges Ritual entwickelt, wie der Zeitfluss in einzelne Tageskader aufgelöst werden kann. Im Archivwesen nennt man diese normierten Eingriffe in einen dynamischen Prozess „Formatismus“. Das Format bestimmt dabei den Inhalt, das Containment den Content.

Die Spielregel für SELBST ist als Installationsbeschreibung für eine Kunstaktion zu verstehen, worin Events, Ausstellungen, Lesungen, Buch und Archivierung zu einem Format vereinigt sind.

Das Buch SELBST fühlt sich dabei wie ein echtes Buch an, für jeden Tag ist eine Seite reserviert, in der oberen Seitenhälfte glänzt das Cover eines Selfies, einer Videoaufzeichnung oder einer digital bearbeiteten Collage, in der unteren ist ein Thema in zwölf Zeilen zu einem Textblock zusammengepresst, der etwa die Ausmaße einer Vignette annimmt. An der Mittelachse des Tages sind jeweils das Datum ohne Jahreszahl, sowie die Schlagzeile zum Kunstwerk des Tages aufgesteckt wie die Reiter in einer Kartei.

Aus den Inhalten lässt sich erschließen, dass das bearbeitete Jahr jenes Katastrophenjahr von 2022 ist, in welchem niemand weiß, ob man die Pandemie schon überlebt hat, und in welchem die sogenannte Zeitenwende durch den Überfall auf die Ukraine eingeläutet ist.

Der Archivteil schlüsselt die Tagesthemen nach Zeit und Ort auf, geschätzte achtzig Prozent der Kreativität spielen sich dabei am sogenannten Mitterweg ab, der durch das Projekt SELBST eine Würdigung erfährt, die ihm bislang nur ausgewiesene Mitterweg-Forscher und am Mitterweg Leidende ausgesprochen haben.

Der Mitterweg in Innsbruck ist eine beinahe Sack-Gasse, aus der nur Sportler und Bankräuber hinausfinden, architektonisch spricht man von ihm als No-Tektur-Zone, das heißt, im Sinne eines Slums sind einem Bauhof ähnlich jene Baumaterialien ausgestellt, die es in den letzten Jahrzehnten geschafft haben, sich zu einer Kubatur zu organisieren.

Der restliche Schaffensort lässt sich mit Wipptal beschreiben, ein Transittal, das die meisten nur als asphaltiertes Lärmband kennen, auf dem es möglichst rasch in den Süden zu fliehen gilt.

Thomas Schafferer nutzt Mitterweg und Wipptal als Lost Places, um darin seine Überlebensstrategien zu entwickeln, die im Idealfall in die Konstruktion eines SELBST einfließen.

Im Januar etwa dauert es bis zum 16. des Monats, bis das kreative Ich aus dem Mitterweg hinausfindet und auf dem Weg ins Wipptal Gianna Nannini und ihren Song über „differenca“ hört. Dabei steht der Mars auf der Sonne und gibt Rückenwind, es kann sich aber auch um einen Marsriegel handeln, der jäh sonnige Stimmung und Kraft verströmt. Später wird sich um diese Ausfahrt eine Kunst-Struktur entwickeln, indem das Wipptal auf veritable Kraftplätze abgeklopft wird. Kleine Nischen tun sich auf, worin es sich vor der Welt abtauchen lässt in einer Paste aus Selbst.

Ein durchgehender Plot führt an die Hinterseite der offiziellen Transitroute an Orte, die sich unversehrt geben, während sie sich vom Alltagstreiben abwenden. Die Einheimischen bewahren sich diese Orte, indem sie nichts davon erzählen, freilich um den Preis, dass ein Wolf vorbeischaut und Damwild reißt. In diesen intimen Nischen gedeihen die Kulturpflanzen des Zusammenlebens, selbst ein simpler Geburtstag kann zu einem Festtag ausarten, vor allem wenn es die Mutter ist, die ihn uneigennützig auf sich wirken lässt.

In regelmäßigen Abständen drängt sich das Kunstwerk in den Vordergrund, es muss finanziert werden, artifizielle Strukturen gilt es zu beachten, in einem Workshop drängen Kulturmanager darauf, ein Alleinstellungsmerkmal zu entwickeln. All diesem Treiben stellt das Ich sein Selbst gegenüber, das zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzweifel oszilliert.

Und ständig weht der Weltgeist, sei es dass die Ukraine überfallen wird und alle Spielregeln des kontinentalen Zusammenlebens über den Haufen geworfen sind, sei es, dass der Künstler in seiner eigenen Wohnung in Isolationshaft gerät und sich mit dickem Filzstift das böse Mal der Pandemie an die Stirn malt.

SELBST unterscheidet sich von einem Tagebuch durch die Umkehr von Ursache und Wirkung. Während ein Tagebuch das Jahr notiert als Ablauf von Ereignissen, lässt SELBST das Jahr hinterher entstehen, nachdem es einem Schöpfungsbericht ähnlich aus dem Kunstwerk heraus kristallisiert ist.

Der Funke des Projekts springt im Tagesrhythmus auf die Lesenden über. Diese blättern sich durch die Bilder wie durch ein Videomagazin und schalten sich hinter den Icons persönliche Filme frei. Die Schlagzeilen untereinander gelesen ergeben eine Chronik des Künstlers, die an vielen Stellen mit jener der Lesenden kompatibel ist.

Und die Textblöcke selbst entfalten üppige Poesie, wenn man sie beim Lesen aus der Petrischale befreit, in der sie der Künstler „zwölf-zeilig“ herangezüchtet hat.

Thomas Schafferers Porträt eines Künstlerlebens liegt prächtig in der Hand und liest sich wie von selbst.

Thomas Schafferer, SELBST. Porträt eines Künstlerlebens, mit Abbildungsselfies
Innsbruck: Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative TAK 2023, 383 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-900888-86-2

 

Weiterführender Link:
Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative: Thomas Schafferer, SELBST. Porträt eines Künstlerlebens
Wikipedia: Thomas Schafferer

 

Helmuth Schönauer, 08-09-2024

Bibliographie
AutorIn:
Thomas Schafferer
Buchtitel:
SELBST. Porträt eines Künstlerlebens, mit Abbildungsselfies
Erscheinungsort:
Innsbruck
Erscheinungsjahr:
2023
Verlag:
Verlag Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative
Seitenzahl:
383
Preis in EUR:
22,00
ISBN:
978-3-900888-86-2
Kurzbiographie AutorIn:
Thomas Schafferer, geb. 1973 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.