Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche: Diagnose und Förderprogramme, Teil 1

Wenn Kinder auffallend große Probleme beim Lesen haben und besonders viele Rechtschreibfehler machen, stehen Eltern meist ratlos vor dem Problem, wie sie mit den Schwierigkeiten ihrer Kinder richtig umgehen sollen. Die Ursache dafür muss nicht mangelnde Begabung oder schlechter Unterricht sein, sondern kann sich als sogenannte „Lese-Rechtschreibschwäche“ herausstellen.

Wenn Kinder große Schwierigkeiten beim Lesen und bei der Rechtschreibung zeigen, gilt es zunächst die Ursachen und den aktuellen Leistungsstand zu klären. Anschließend kann das passende Lese-Rechtschreibtraining ausgewählt werden, das sich idealerweise an den Symptomen orientiert. Wichtig für den Erfolg sind realistische Ziele und motivierende Übungen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert die Lese-Rechtschreibschwäche, in Folge auch kurz als LRS bezeichnet, als eine Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die oft mit einer Rechtschreibstörung verbunden ist.

Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. ICD-10 BMG 2014: F81.0, S. 239: Lese- und Rechtschreibstörung

Um die Schwierigkeiten besser zu verstehen, mit denen Kinder mit einer LRS zu kämpfen haben, ist es zunächst wichtig, sich kurz mit dem überaus komplizierten Prozess des Lesen- und Schreibenlernens auseinander zu setzen. Beim Schreiben wird gesprochene Sprache in geschriebene Sprache übertragen, wobei die verschiedenen Entwicklungsphasen beim Schreibenlernen jeweils aufeinander aufbauen. In den europäischen Schriftsprachen wird die Sprache durch einzelne Laute abgebildet, die erst zu Lautfolgen verbunden werden müssen, um zu Symbolen für den Inhalt unserer Sprache zu werden.

Klaus B. Günther, Professor für Gebärdensprach- und Audiopädagogik unterscheidet in seiner Schrift „Stufenmodelle des Lesen - und Schreibenlernens“ verschiedene Phasen des Schreiben- und Lesenlernens. Die Bildbetrachtung aber auch Wiedergabe des Wahrgenommenen durch Bauen und Malen stellt in diesem Modell bereits eine wichtige Vorstufe zum Lesen dar. In der sogenannten „Präliteral-symbolischen Phase“ lernen Kinder die Unterschiede zwischen Bildern und Buchstaben kennen.

Kinder sind sehr früh imstande, vertraute Schriftzüge - wie z.B. Coca Cola - wiederzuerkennen und zu benennen.
Bild: Friedrich Petersdorff, Berlin

 

In der ersten Phase des Schreiben- und Lesenlernens erkennt das Kind Wörter rein visuell an hervorstechenden Merkmalen. Kinder erinnern sich beim Schreiben von Wörtern in dieser Phase an die Zeichen und ihre Reihenfolge, können aber noch keine Wörter schreiben, die ihnen unbekannt sind. Erst in der „alphabetischen Phase“ lernen Kinder den Zusammenhang zwischen gesprochener und geschriebener Sprache und damit Gehörtes in Schrift zu übertragen.

Diese Übersetzung erfolgt auf der Ebene von Lauten und Buchstaben, die einander zugeordnet werden müssen. Dabei kann es sein, dass Kinder bereits richtig gespeicherte Wörter plötzlich falsch schreiben.

Erst in der „orthographischen Phase“ erkennen Kinder, dass die korrekte Schreibweise nicht durch die Lautsprache bestimmt wird, sondern durch Regeln der Rechtschreibung. In der letzten „integrativ-automatisierten Phase“ findet schließlich die Festigung und Automatisierung des bereits Erlernten statt.

Nun können während dieses Entwicklungsverlaufes bei vielen Kindern zahlreiche Fehler auftreten, wie z.B. das Auslassen oder Umstellen von Buchstaben. Aber erst, wenn bei einem Kind besonders viele Fehler auftreten, die sich weder durch mangelnde Begabung oder schlechten Unterricht erklären lassen, handelt es sich um eine Legasthenie. Diese anerkannte Krankheit berücksichtigt auch der „Legasthenie Erlass“ des Bundesministeriums für Bildung für die Leistungsbeurteilung von Schülerinnen und Schülern. Im Rundschreiben Nr. 32/2001 wird ausdrücklich festgehalten, dass Schularbeiten und andere Leistungsfeststellungen „nicht ausschließlich nach der Art und Anzahl der Rechtschreibfehler beurteilt werden.“ Auch für die Leistungsbeurteilung insgesamt gilt, „dass der Gesichtspunkt der Schreibrichtigkeit keinesfalls die einzige Grundlage der Leistungsbeurteilung sein kann und darf.“

Das Interesse am Thema Lese- Rechtschreibschwäche und Legasthenie hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen, was auf Berichte in den Medien, auf neue Theorien zu den Ursachen aber auch auf eine enorme Zunahme an Förderansätzen und –angeboten zurückgeführt werden kann. So haben sich die Legasthenie-Forschung und Legasthenie-Förderung zu einem wichtigen Wirtschaftsmarkt entwickelt. Im technischen Bereich wurden z.B. Geräte wie der „Brain-Boy“ oder der „Reading pen“ entwickelt und als revolutionäre Lesehilfen für Legastheniker angepriesen. Stark umworben wurde auch der Einsatz von Prismenbrillen zur Behandlung von Lese-Rechtschreib-Störung bei Schulkindern, was von Seite der Fachärzte für Augenheilkunde und Optometrie in Tirol als ungeeignet abgelehnt wird.

Verschiedene Theorien und Fördermaßnahmen haben sich als wenig hilfreich erwiesen. Nach heutigem Stand scheint die LRS eine genetische Grundlage zu haben. So konnte festgestellt werden, dass das sogenannte DCDC2-Gen bei Legasthenikern und Kindern mit einer schweren Rechtschreibschwäche häufig Veränderungen aufwies. Die häufigste Ursache für LRS liegt in einem nur schwer fassbaren Defizit bei der Sprachverarbeitung, wenn Kinder Schwierigkeiten haben, die genaue Lautstruktur von Sprechwörtern rasch und automatisch zu erfassen. Vier bis sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler weisen eine Lese-Rechtschreibschwäche auf.


Bei diesem Wortzuordnungsspiel ist es wichtig, das Wort möglichst schnell zu erkennen und der richtigen Kategorie zuzuordnen. Screenshot: Tiroler Leseraupe

 

Bei jungen Schulkindern äußern sich die Probleme meist darin, dass sie bei unbekannten Wörtern nicht in der Lage sind, eine Lautsynthese durchzuführen, d.h. es gelingt ihnen nicht, die durch Buchstaben abgebildeten Laute beim Lesen zu verbinden. Bei älteren Kindern treten Schwierigkeiten bei der Worterkennung und bei der Rechtschreibung in den Vordergrund, d.h. sie lesen auffallend langsam und machen viele Rechtschreibfehler.

Während es guten Lesern bei der schnellen und automatischen Worterkennung und für die Rechtschreibung gelingt auf ein Repertoire an Schriftwörtern in ihrem Gedächtnis zurückzugreifen, haben Kinder mit LRS damit deutliche Probleme. Aber auch beim Schreiben gelingt ihnen die Zerlegung gesprochener Wörter in einzelne Laute zumeist nur schlecht, was „lautorientiertes Schreiben“ erheblich erschwert. Besondere Schwierigkeiten bereitet die genaue Anordnung von Konsonantenanhäufungen wie z.B. str- oder kl.

 

Weiterführende Links:
Schulpsychologie Tirol: Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Infoblatt
Schulpsychologie Tirol: Lernen und Lernschwierigkeiten
BMB: Lese-Rechtschreibschwäche oder Legasthenie bei Schülerinnen und Schülern
Informationen zur Lese-Rechtschreibschwäche des LSR für Tirol
LMU München: Stufenmodelle des Lesen- und Schreibenlernens

 

>> Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche: Diagnose und Förderprogramme, Teil 2

 

Andreas Markt-Huter, 04-10-2017
Titelbild: Georgios Jakobides, Lesendes Mädchen
Foto: Bonhams London, in: Wikipedia

 

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