Lois Lowry, Die Gabe des Boten
Bereits das geheimnisvolle (und somit ansprechende) Cover der deutschen Ausgabe weist in Richtung Fantasy/ Science-Fiction/ utopischer Roman, indem es schemenhaft, in futuristisch anmutender Art und Weise einen der wichtigsten Schauplätze des Buches zeigt: einen mystischen, schwer zu durchdringenden Wald. Dieser Wald ist, wie im Verlauf der Handlung zum Ausdruck kommt, aber mehr als nur Ort des Geschehens. Er ist zugleich ein Indikator für das Denken der Menschen, für ihr Verhalten untereinander und ihre (sich wandelnden) Einstellungen.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Matty, ein Teenager, der mit seinem (blinden) Ziehvater Seher in Dorf lebt. (Anm.: Man beachte bei den Ortsangaben - wie Dorf und Wald- und den Berufs- bzw. Standesbezeichnungen - wie Mentor, Seher, Anführer- das Weglassen des Artikels. Das gibt dem Roman von der ersten Seite an einen utopischen, (z.T. etwas esoterisch angehauchten) Unterton, vermittelt aber auch den Eindruck von Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit.
Matty unterscheidet sich von den übrigen Dorfbewohnern durch zwei Eigenschaften:
Während anderen die Orientierung und das Vorwärtskommen im dichten Wald nur schwer möglich sind, fühlt sich Matty dort sehr wohl und erledigt für die Einwohner Botengänge, die durch Wald führen. Jeder in Dorf muss sich seinen Ruf- oder Hauptnamen, der auf besondere Fähigkeiten Bezug nimmt, erst verdienen. Matty hofft, man werde ihm aufgrund seiner Befähigungen eines Tages den Namen "Bote" geben (vgl. Titel des Buches).
Im Titel ist weiters von der "Gabe" des Boten die Rede. Diese spezielle Gabe ist die zweite Besonderheit Mattys. Er kann Menschen (und auch Dinge) heilen, indem er ihnen die Hand auflegt und die Krankheit, das Zerstörerische aus ihnen "heraussaugt", wobei es im Anschluss kurzfristig zu einer Schwächung seiner physischen Kräfte kommt (-vgl. in diesem Zusammenhang die Parallele zum Film "The Green Mile").
Diese Gabe, die ihm im Verlauf der Geschichte erst selbst bewusst wird (- zuerst bei der eher zufälligen Heilung verletzter Tiere -), ist Matty anfangs suspekt und er versucht sie vor anderen zu verbergen. Anführer, der "hinter die Dinge blicken" kann, d.h. telepathische Fähigkeiten besitzt, "durchschaut" Matty aber und macht ihm klar, dass er einer von wenigen Auserwählten sei, die über eine spezielle Gabe verfügen. Er gibt ihm darüber hinaus den Rat, seine Kräfte sparsam und gezielt einzusetzen und sie nicht zu verschwenden. Mattys Gabe wird im weiteren Handlungsverlauf des Romans eine entscheidende Rolle spielen.
Dorf, ursprünglich ein Refugium menschlicher Wärme, ein Zufluchtsort für Arme und Verfolgte (- wie es auch Matty und sein Adoptivvater einst waren-) verändert seinen Charakter: Mit dem Anwachsen der materiellen Ansprüche, der Eitelkeit und der Ichsucht geht die Ausgrenzung von Bedürftigen und Hilfesuchenden einher. Viele Dorfbewohner stimmen für die Errichtung eines Walls rund um das Dorf und erklären Immigranten zu unerwünschten Elementen. (Man beachte dabei die Metaphorik des Walls/ der Mauer und den zeitgeschichtlich-politischen Aspekt, der - und darin liegt das Großartige - in ganz einfacher, kindgerechter Bildsprache dargestellt wird.)
Matty muss nun, bevor der geplante Wall fertig gestellt ist, Kira, die von Seher einst zurückgelassene Tochter, aus ihrer Heimat jenseits des Waldes nach Dorf bringen. Die Zeit eilt, denn sind die Grenzen einmal dicht, ist die Mauer aufgezogen, sind die familiären Beziehungen für immer gekappt. Die ohnehin mehrtägige Reise wird dadurch erschwert, dass Kira aufgrund eines verkrüppelten Beines körperlich leicht gehandicapt ist. Sie will jedoch so bleiben, wie sie ist und lehnt Mattys Vorschlag ab, ihr seine besonderen Heilkräfte zuteil werden zu lassen. (Ihre körperliche Beeinträchtigung kompensiert Kira im Übrigen ebenfalls durch eine besondere Gabe: Sie kann mittels selbst gewebter Bilder in die Zukunft schauen. In diesem Sinn ist sie eine "geistige Schwester" von Anführer.)
Ein zusätzliches Hindernis ist Wald, der parallel zu den Vorgängen in Dorf plötzlich gefährlich verändert wirkt: Büsche wachsen zusammen und behindern den Weg der Reisenden, Sumpf blockiert ihr Vorankommen, beißender Saft tropft aus den Ästen der Bäume und Verwesungsgestank raubt ihnen den Atem. Wald ist bereit, jeden Eindringling zu vernichten - auch Matty, der sich früher frei und sicher auf seinem Territorium bewegen konnte. Wald wird zum Sinnbild, zum Abbild der Gesellschaft; er ist, wie Seher im Buch erkennt, eine "Illusion", ein "verworrenes Knäuel aus Ängsten, Betrügereien und finsteren Machtgelüsten, das sich getarnt hatte" (S.190).
Die Beschreibung des zerstörerischen Waldes gehört in sprachlicher Hinsicht zum Lebhaftesten, Eindringlichsten und Spannendsten, was das Buch zu bieten hat.
Schließlich gelingt es Matty unter Aufbringung der letzten Kräfte seine Gabe wirkungsvoll einzusetzen, den tödlich umklammernden Wald zurückzudrängen und damit nicht nur sich und Kira, sondern auch die Welt zu retten.
Die Menschen von Dorf kehren wieder zu ihrer ursprünglichen Gesinnung zurück und Matty erhält seinen neuen Namen: HEILER.
Summa summarum ein Buch, das nicht nur Liebhaber von Fantasy-Literatur in seinen Bann ziehen wird.
Lois Lowry, Die Gabe des Boten. Übers. v. Henning Ahrens, ab 12 Jahren
Hamburg: Carlsen-Verlag 2006, 191 Seiten, 15,00 EUR, ISBN 978-3-551-58140-2
Alois Wieser, 28-01-2007