Lesen im Archiv: Die Anfänge der Republik in Österreich, Teil 3

Vor 90 Jahren wurde in Österreich die Monarchie abgeschafft und die demoktratische Republik gegründet. Grund genug, auf die große Anzahl an historischen Dokumenten hinzuweisen, die von den österreichischen Archiven online zur Verfügung gestellt werden und für alle einfach und rasch über Internet zugänglich sind.So geben z.B. die Sitzungsprotokolle der provisorischen Nationalversammlung aus dem Jahr 1918 einen lebhaften Einblick in eine Zeit, in der die 1. Republik laufen lernte.

Viele der alten Dokumente aus der Zeit der Habsburger Monarchie und der 1. Republik wurden in der damals gängigen Frakturschrift abgedruckt. Bei der Frakturschrift handelt es sich um eine Druckschrift, die im deutschen Sprachraum vom 16. Jahrhundert bis ca. 1940 in unterschiedlichen Varianten verwendet wurde. Entwickelt hat sich die Schrift aus der seit dem 12. Jahrhundert verwendeten gotischen Buchschrift.

Die Sitzungsprotokolle der provisorischen Nationalversammlung Ende 1918 liegen in Frakturschrift vor. Mit ein wenig Übung lässt sich die ungewohnte Schrift relativ rasch lesen und die Dokumente erwecken die Stimmung, das Denken und die Sprache der damaligen Zeit wieder zum Leben. Das im Bild vorgestellte Alphabet in Frakturschrift soll beim Einstieg in das Lesen historischer Dokumente behilflich sein.


Viele Buchstaben der Fraktura-Schrift sind den lateinischen Buchstaben sehr ähnlich. Beachten sollte man den kleinen Unterschied zwischen dem kleinen f und dem langen s (rechts neben dem kleinen s). Beim f ist der Querstrich ein wenig links und vor allem rechts, beim langen s hingegen nur links.

Die im folgenden präsentierten Texte aus den Protokollen der ersten provisorischen Nationalversammlungen bieten nicht nur geschichtlich interessierten Leserinnen und Lesern einen spannenden Einblick in die Anfänge der 1. Republik. Auch für den Schulunterricht bieten die Dokumente einen hautnahen Zugang zu den Ereignissen und zum Denken von Politikern dieser Zeit.

 

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Teil 3: Staatsbürgerschaft und Antisemitismus am Beginn der 1. Republik

Vor der Auflösung der Monarchie zählten die Bewohner der deutschsprachigen Länder Österreichs ebenso zu den Staatsbürgern des Kaiserreichs Österreich wie die Einwohner Dalmatiens, Böhmens, Mährens, Schlesiens, Galiziens und der Bukowina. Viele Menschen der Monarchie mit unterschiedlicher Nationalität lebten aus beruflichen Gründen in entfernten Gebieten. Diese Wanderbewegung wurde durch den Krieg noch um ein vielfaches verstärkt, sodass sich am Ende des Krieges eine große Anzahl an Menschen in Österreich befand, die als Flüchtlinge, als so genannte displaced persons galten. Auf der anderen Seite lebten in den ehemaligen k.u.k. Kronländern zahlreiche deutschsprachige Personen, die nun Staatsbürger der neu gegründeten Nachfolgestaaten waren.

Bereits zu Beginn des 1. Weltkrieges kam es zu einer Massenflucht jüdischer Bewohner aus Galizien vor den russischen Truppen. Mehr als 100.000 Flüchtlinge kamen in dieser Zeit nach Wien, wovon der größte Teil nach dem Krieg wieder heimkehren sollte. Aber auch nach dem Krieg sahen sich viele Juden gezwungen, dem aufkeimenden Nationalismus in Polen und Rumänien nach Österreich zu entfliehen, wo ihnen auch von Seiten antisemitischer Kreise eine Welle der Ablehnung entgegenschlug.

Juden und vor allem Juden aus den östlichen Gebieten der ehemaligen Monarchie mussten in dieser wirtschaftlich angespannten Lage der Nachkriegszeit für breite Kreise als Sündenbock herhalten. Die christlichsozialen Abgeordneten verlangten im Juli 1919, dass die in Wien lebenden so genannten Ostjuden zur Auswanderung gezwungen oder interniert werden sollten. Ähnliche Forderungen gab es auch von Seiten der Großdeutschen Partei.


Die Aufteilung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gemäß den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten Weltkrieg. Quelle: Wikipedia: Österreich-Ungarn

Diese Ablehnung spiegelte sich auch in den Protokollen der deutschösterreichischen Nationalversammlung wieder, wo sich nicht nur das Ringen um eine neue Verfassungs- und Regierungsform nachlesen lässt. Die stenographischen Mitschriften geben auch unverhüllt den Antisemitismus bestimmter Abgeordneter wieder, dessen letzte Konsequenz ein Vierteljahrhundert später im Holocaust münden wird.

Nachdem die Wahl zum neuen Nationalrat bereits im Jänner aufgrund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen erfolgen sollte, war es wichtig zu bestimmen, wer als Staatsbürger gelten soll und somit das Wahlrecht erhält.

Die Diskussion, wer nun als Staatsbürger Deutschösterreichs gelten solle, erfolgte in einer stark nationalistisch geprägten Atmosphäre. Dahinter stand der allgemeine Wunsch, die neue Republik Deutschösterreich so schnell wie möglich an das Deutsche Reich anzuschließen.

Stenographisches Protokoll der 3. Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten, Wien, am 12. November 1918

Präsident Dr. Dinghofer: Vierter Punkt der Tagesordnung ist das Gesetz über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht (4 der Beilagen). Berichterstatter ist Herr Dr. Ofner: ich erteile ihm das Wort.

Staatsrat Dr. Julius Ofner: Hohes Haus! Der Staatsrat legt dem Hohen Hause nicht ein allgemeines Gesetz über das Staatsbürgerrecht vor, die Novelle, welche hier vorliegt, stützt sich vielmehr im Wesentlichen auf die bestehenden Gesetze. Es soll nur Ordnung geschaffen werden, weil aus dem alten Österreich eine Reihe von Nationalstaaten entstanden ist und dadurch die alte Staatsbürgerschaft aufgehört hat und neue Staatsbürgerschaften entstehen. [...]

Die Bestimmungen bestehen darin, dass als Regel festgehalten wird, das Gemeinderecht in einer deutschösterreichischen Gemeinde gebe zugleich die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft. Dabei ist aber eine Reihe von  Ausnahmen festgestellt. Nicht Staatsbürger werden diejenigen, welche sich zu einem anderen Nationalstaate in der österreichisch-ungarischen Monarchie bekennen, und nicht Staatsbürger werden Beamte und Bedienstete, welche das vorgeschriebene Gelöbnis nicht leisten.

Das ist das Negative. Außerdem muss aber für Positives gesorgt werden, denn es versteht sich von selbst, dass derzeit die Menschen innerhalb ganz Österreichs umhergewandert sind und gemeint haben, dass sie dadurch ihre Staatsbürgerschaft behalten, da ja ein und dieselbe Staatsbürgerschaft bestand. Es muss also vorgesorgt werden, dass Personen, welche nicht nach der allgemeinen Regel Deutschösterreicher sind, auch Deutschösterreicher werden können.

Der Staatsrat hat in seiner Mehrheit lediglich drei derartige Fälle angenommen: erstens, wenn der Betreffende von einer deutschösterreichischen Gemeinde bereits die Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband erhalten oder doch [...] den Anspruch auf die Zusicherung erworben hat; zweitens, wenn er innerhalb eines Jahres von einer deutschösterreichischen Gemeinde das Heimatrecht erhalten hat, und drittens Beamte, welche vor ihrer Amtstätigkeit in einer deutschösterreichischen Gemeinde heimtatberechtigt waren [...].

Die Aufnahme erfolgt in diesen Fällen unter gewissen formalen Bedingungen. Alle diese Personen müssen nämlich erstens sich dazu bekennen, getreue Staatsbürger des deutschösterreichischen Staates zu sein, sie dürfen ferner keine Verbrechen begangen haben und außerdem sind gewisse Zeitpunkte angeordnet, bis zu denen sie dieses Bekenntnis ablegen können, müssen, bis zu denen sie auch das Ansuchen stellen müssen; [...]

Nicht gesagt ist, dass sie [...] sonst irgendwie das Recht haben, als deutschösterreichische Staatsbürger anerkannt zu werden.
Dieser Umstand, dass es nämlich auf die Gemeinde, auf den freien Willen der Gemeinde ankommt, ob diejenigen deutschösterreichische Staatsbürger werden, welche von einer deutschösterreichischen Gemeinde innerhalb eines Jahres die Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband erhalten müssen, dass diejenigen es nicht werden, die diese Zusicherung nicht bekommen, bietet allerdings großen Schwierigkeiten Raum, denn in der Gemeinde spielt, wie die Erfahrung gezeigt hat, noch sehr viel Zufälligkeit mit, als Motiv der Aufnahme oder der Nichtaufnahme.

Es ist daher eine Lücke entstanden. Die Staatskanzlei hatte vorgeschlagen, dass wenn jemand in Deutschösterreich wohnt, ihm die Zusicherung nicht abgeschlagen werden kann. Das ist aus dem Grunde abgelehnt worden, weil man gefürchtet hat, dass dadurch die ganzen galizischen Flüchtlinge, welche lediglich durch den Krieg hergekommen sind, welche aber nicht die Absicht haben, hier zu wohnen, trotzdem nach dem Buchstaben des Gesetzes als hier wohnhaft genommen werden könnten.

Man hat aber vergessen, dass die Streichung dieses Absatzes eine Reihe von anderen Menschen sehr hart trifft, welche keine Flüchtlinge sind, welche sich in Deutschösterreich sesshaft gemacht haben und nunmehr nicht wissen, wohin sie eigentlich gehören: denn in den nationalen Staat, in dem sie nach altem Recht heimatberechtigt sind, in den wollen sie nicht zurück, zu dem fühlen sie sich nicht hingezogen, dem gehören sie mit dem Herzen nicht an und wir wollen sie nicht aufnehmen.

Andrerseits hat man Bedenken geäußert, dass kleine Gemeinden sich sehr leicht dazu herbeilassen werden, die Zusicherung zu geben und dass dadurch für den Staat manche Schwierigkeiten entstehen werden. Das wird also der Ausschuss der Nationalversammlung zu erwägen haben und es wird sich vielleicht empfehlen, für diese Bestimmungen eine gewisse veränderte Form zu finden.

Im Allgemeinen aber glaubt der Staatsrat empfehlen zu können, dass dieses Gesetz über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht der Verhandlung unterzogen werde. Es wird Sache des Ausschusses sein, dem Gesetz diejenige Form und denjenigen Inhalt zu geben, welche imstande sein werden, unsere wirklichen Interessen zu befriedigen.

Präsident Dr. Dinglhofer: Zum Worte hat sich gemeldet der Herr Abgeordnete Wolf; ich erteile ihm das Wort.

(Karl Hermann Wolf ist Mitglied der Deutsch Nationalen Partei und deklarierter Antisemit. Anm. A.M-H.)

Abgeordneter Wolf: Hohe Nationalversammlung! Bei der Feststellung unseres Staatsgebietes haben wir leider Gottes manche Sprachinsel und viele in den anderssprachigen Mehrheiten eingestreute Minderheiten preisgeben müssen. Sie sind uns verloren gegangen [...]. Nun müssen wir selbst dafür Sorge tragen, dass denen, die sich als Deutsche bekennen und auch deutsch geboren sind, die dort nicht mehr leben wollen, weil ihnen das Bekenntnis zu ihrer Nationalität versagt ist, die Möglichkeit gegeben werde, in unserem Staate nicht bloß als Fremde, sondern auch als vollgültige Staatsbürger zu leben, worauf sie ein Anrecht haben, weil wir denjenigen Teil des deutschen Volkes darstellen, der bisher im Staate Österreich verweilte.

Ich glaube aber, wir müssen da ein bisschen vorsichtig sein. Wir dürfen nicht alle irgendwie und aus irgendwelchem Grunde sich anbietenden Elemente ohne weiteres aufnehmen und darum möchte ich schon in diesem Stadium der Behandlung des Gesetzes einen auf die Grundlinien der ganzen Konstruktion Bezug nehmenden Antrag stellen, weil ich glaube, es ist gut, wenn schon jetzt davon gesprochen wird und man dadurch dem Ausschuss die Arbeit einigermaßen erleichtert.

Außerdem drängt mich mein Gefühl dazu und möchte dem Ausschusse das Gesetz nicht einmal in der vorliegenden Form überwiesen haben, ohne schon jetzt gegen die Fassung schwerwiegende Bedenken angeführt zu haben.

Ich werde mich kurz fassen. Ich beantrage vor allem, dass es im § 1 am Ende anstatt: und sich zur deutschen Nationalität bekennen, heißen soll: und der deutschen Nationalität zugehören, denn bekennen kann sich bald einer zur deutschen Nationalität, wenn es ihm Vorteil bringt und wir werden das hier erleben.

Nun habe ich noch etwas anzuführen. Es tut mir jetzt in diesem Augenblick eigentlich recht leid, dass ich in dem nicht ganz unbegründeten Verdacht stehe ein Antisemit zu sein, denn da haben die Gegner meines Antrages und meiner gewiss ganz begründeten Anregung die Möglichkeit zu sagen, dass ich ein roher Radauantisemit bin, ich wolle den Juden eins am Zeug flicken, die Anregung sei nicht ernst, sie sei nur als Ausfluss des Partei- und Rassenhasses zu nehmen.

Um dem vorzubeugen, will ich feststellen, dass mit der Anregung, die ich jetzt mache, sicherlich nicht nur Arier, sondern auch diejenigen Juden, die schon längere Zeit bei uns wohnen und sich ein kleines bisschen, soweit es ihnen möglich ist, assimiliert haben, einverstanden sein dürften, und zwar erstens einmal, weil ihnen das Östliche, Allzuöstliche, was an den aus Galizien während des Krieges bei uns eingezognen Juden so krass und schreckhaft zum Vorschein kommt, auch nicht sympathisch ist, weil sie schon mehr Kulturmenschen geworden sind, und zweitens aus einem weniger ethischen als vielmehr start materiellen Grunde, weil sie in dem starken Zuzug, der hier bleibt und sich hier festsetzt, eine sehr starke Konkurrenz und eine Beeinträchtigung des ökonomischen, des wirtschaftlichen Weideplatzes erblicken, auf dem sie bisher allein geäst haben.

[...] denn während des Krieges sind als Flüchtlinge zu uns Juden aus Galizien und aus Polen in Scharen herübergekommen und haben die Eigenheiten und Rasseneigentümlichkeiten mit herübergebracht, die sich dort rein erhalten haben [...].

Kurz und gut, der Ausschuss muss dafür sorgen, dass nicht in dem Wortlaut dieses Gesetzes die Möglichkeit Platz findet, dass unter Benutzung der hier enthaltenen Bestimmungen die während des Krieges zu uns eingewanderten galizischen Juden sich bei uns verankern und dauernd festlegen. Das muss verhindert werden ...

Präsident Dr. Dinghofer: Es ist niemand mehr zum Worte gemeldet. Ich erkläre die Debatte für geschlossen und erteile dem Herrn Referenten das Schlusswort.

Staatsrat Dr. Ofner: Meine Herren! Es handelt sich um die erste Lesung und ich wünsche deshalb nicht in eine große Debatte einzutreten. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die Frage, welcher Nationalität jemand angehört, wenn man das Bekenntnis weglässt, in der Luft schwebt.

Ich wüsste nicht, wer berechtigt ist darüber zu urteilen, und kann kaum meinem Bedauern Ausdruck geben, dass die ersten Sitzungen der deutschösterreichischen Nationalversammlung mit derartigen Ausfällen gefüllt werden, wie wir sie vom Herrn Abgeordneten Wolf soeben gehört haben.
(Abgeordneter Wolf: Na, na, nur nicht so zimperlich!)

Entschuldigen Sie, Herr Wolf, Sie sind nicht zimperlich, wenn es die anderen betrifft; wenn es aber Sie betrifft, sind Sie zimperlich genug. Ich habe keinen weiteren Antrag zu stellen, als dass dieses Gesetz dem Ausschusse zuzuweisen ist.

Präsident Dr. Dinghofer: Es ist von Seiten des Herrn Berichterstatters der Antrag gestellt worden, das Gesetz über die Staatsbürgerschaft dem Ausschusse zuzuweisen. Dann sind vom Herrn Abgeordneten Wolf Anträge gestellt worden, die er verlesen hat. Soll ich sie noch einmal zur Kenntnis bringen? (Rufe: Nein!) Ich bitte diejenigen Herren, welche die Anträge unterstützen, sich zu erheben (Geschieht) Sie sind genügend unterstützt.

Protokoll: 3. Sitzung der prov. Nationalversammlung, S. 71-73
Transkription: Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

In der 6. Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich, am 27. November 1918 kommt das Gesetz über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht in die 2. und 3. Lesung, wo nun endgültig beschlossen werden soll, wer deutschösterreichischer Staatsbürger wird und wer nicht.

Der Vorschlag des Abgeordneten Wolf die ehemaligen Staatsbürger Österreichs, die als Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina gekommen sind, vom Staatsbürgerrecht in Deutschösterreich aufzunehmen, wird Teil des Gesetzesantrags. Wolf hat mit dieser Formulierung einzig und allein das Ziel verfolgt, die jüdischen Flüchtlinge aus diesen Gebieten aus Österreich zu entfernen.

Stenographisches Protokoll der 6. Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten, Wien, am 27. November 1918

Berichterstatter Dr. Schacherl: [...] vor allem zur Vornahme der konstituierenden Nationalversammlung ist es notwendig zu wissen, wer Staatsbürger des neuen deutschösterreichischen Staates ist. 

[...] Das neue Gesetz, das wir heute vorschlagen, unterscheidet nun folgende Arten von Staatsbürgern: Erstens sind Staatsbürger diejenigen, die in einer deutschösterreichischen Gemeinde heimatberechtigt sind, [...] zweitens kann Staatsbürger werden durch die bloße Option, durch die bloße Erklärung derjenigen, welcher in einer Gemeinde der deutschösterreichischen Republik seinen ordentlichen Wohnsitz hat oder innerhalb eines Jahres einer deutschösterreichischen Gemeinde seinen Wohnsitz nimmt.

Das ist die allgemeinste Regel. Davon sind zwei Ausnahmen gemacht worden; erstens betrifft die Ausnahme die Ausländer im alten Sinne des Gesetzes, das heißt die früheren Ausländer, also die Ungarn, die Reichsdeutschen, die Schweizer usw. Für diese gilt nicht die Bestimmung, dass sie ohne Rücksicht auf die Dauer ihres Aufenthaltes durch die Option Staatsbürger werden können, sondern diese müssen mindestens seit 1. August 1914 im Gebiete der deutsch-österreichischen Republik wohnhaft gewesen sein; und zweitens wird dieselbe Wohnsitzdauer von denjenigen verlang, die in Galizien, in der Bukowina, in Istrien und Dalmatien heimatberechtigt sind. Für diese gilt also dieselbe Bestimmung, wie sie für die Ausländer alten Stils jetzt gelten soll, dass sie also mindestens seit dem 1. August 1914, also seit Kriegsbeginn hier wohnhaft gewesen sind.
Protokoll: 6. Sitzung der prov. Nationalversammlung, S. 174f

Abgeordneter Kelchmann: Hohe Nationalversammlung! Durch die in Verhandlung stehende Gesetzesvorlage soll jenen Personen, die zwar nicht im Gebiete Deutschöstererreichs, aber doch im Gebiete des alten Österreich heimatberechtigt sind, durch eine besondere Staatsbürgerschaftserklärung ermöglicht werden, die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Eine Ausnahme wird hinsichtlich jener Personen gemacht, die in Dalmatien, Istrien, Galizien und der Bukowina heimatberechtigt sind. Diese werden also aus gewissen Gründen als Ausländer behandelt und es wird ihnen nicht einmal für die Übergangszeit das Optionsrecht eingeräumt.

Meine Herren! Ob dadurch der beabsichtigte Zweck, nämlich die polnischen Juden loszuwerden, erreicht werden wird, möchte ich beinahe bezweifeln. Das eine aber wird ganz bestimmt erreicht, dass jene deutschen Beamten, die aus dem Westen, aus Steiermark, Deutschböhmen, Ober- und Niederösterreich, Tirol in die Bukowina versetzt wurden und dort auf Grund ihres Dienstbestimmungsortes heimatberechtigt sind, auf das allerschwerste getroffen werden.

[...] Das ist ein ganz unmöglicher Zustand. Während jedem Tschechen auf Grund dieses Gesetzes die Möglichkeit geboten ist, sich einfach als deutschösterreichischer Staatsbürger durch das Optionsrecht zu bekennen, ist das den deutschen Beamten und auch anderen deutschen bediensteten aus der Bukowina versagt. Das ist ein ganz unmöglicher Zustand und es wäre unrecht, wenn der Bukowina als einem deutsch administrierten Lande ein solches Schicksal von uns zuteil würde.

Ich möcht mir daher erlauben, folgenden Abänderungsantrag zu stellen: Im § 2, Alinea II, vierte Zeile, sind die Worte und der Bukowina zu streichen. (Abgeordneter Heine: Und die Flüchtlinge?) Diese Gefahr besteht nicht, wir haben fast keine Flüchtlinge mehr hier, die sind alle in die Bukowina zurückgekehrt; die andere Gefahr aber, dass wir unsere deutschen Beamten schädigen, besteht.

Protokoll: 6. Sitzung der prov. Nationalversammlung, S. 177f
Transkription: Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

Abgeordneter Kemetter: [...] Ich glaube also, es kann nicht genügen, dass, um deutschösterreichische Staatsbürger zu sein, jemand in einer Gemeinde dieser Republik heimatberechtigt ist. Es widerspricht dies ja auch ganz dem Gedanken, der für die Bildung der Nationalstaaten grundlegend war: nicht mehr das Territorium ist die Basis für die Bildung des Staatsbürgerbegriffs, sondern die Nation ist die Trägerin der politischen Rechte im Nationalstaate.

Wir müssen die Staatsbürgerschaft in einem Nationalstaate abhängig machen von der Zugehörigkeit zur Nation, zum Volkstum selber [...].
Aber noch in einer anderen Hinsicht scheinen mir Bedenken obzuwalten, und zwar hinsichtlich der Bestimmungen des § 2. Der § 2 [...] setzt also unbedingt voraus, dass der Betreffende seinen Wohnsitz hierher verlegt. Das ist eine ganz bedeutende Erschwerung für die Angehörigen unseres Volkes, Staatsbürger dieses Nationalstaates zu werden.

[...] Ich glaube , dass, wenn man hier das Bekenntnis (Abgeordneter Ellenbogen: Das steht ja im ersten Absatz des § 2!)Durch die Erklärung, der deutschösterreichischen Republik als getreuer Staatsbürger angehören zu wollen, erwerben die österreichische Staatsbürgerschaft Ja, aber es wird noch hinzuverlangt, dass der Betreffende seinen Wohnsitz hierher verlegt.

Warum diese Erschwerung? (Abgeordneter Jerzubek: Falls er nicht heimatberechtigt ist! Die meisten sind heimatberechtigt! - Ruf: Wir können doch nicht die ganzen Enklaven und Minoritäten in Staatsbürger verwandeln!) Das ist ganz richtig, aber wir müssen es denen, die es durch eine Erklärung werden wollen, möglich machen, unsere Staatsbürger zu werden. Wir schneiden ihnen aber die Möglichkeit direkt ab, wenn wir eine so große Erschwerung als Bedingung setzen, dass sie ihren Wohnsitz hierher verlegen. [...] Wir können, wie gesagt, diese Leute viel besser schützen, wenn sie nicht nur Angehörige unserer Nation, sondern wenn sie auch unsere Staatsbürger sind, denn nur denen können wir den völkerrechtlichen Schutz zuteil werden lassen. [...]

Protokoll: 6. Sitzung der prov. Nationalversammlung, S. 178f
Transkription: Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

Präsident Hauser: Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Wolf.

Abgeordneter Wolf: [...] Es soll also durch die Beschleunigung, mit der dieses Gesetz hier beschlossen wird, dafür gesorgt werden, dass allen, die einen Anspruch darauf haben, bis zum Tage der Wahl die Staatsbürgerschaft gesichert ist, so dass sie an der Wahl zur Konstituante teilnehmen können. Es ist also ein Provisorium [...].

Es könnte höchstens der traurige  [...] Fall eintreten, dass diesen 200 oder 300 deutschen Beamten, die infolge des Wechsels der Verhältnisse aus der Bukowina hierher zurückzukehren die Absicht haben [...] die Teilnahme an der Wahl zur Konstituante unmöglich gemacht wird. Das ist bedauerlich, aber es ist kein Unglück.

Ein großes Unglück aber wäre es, wenn die galizischen Juden, die als Flüchtlinge hierher gekommen sind, und deren lieblicher Chor noch durch die flüchtigen Juden aus der Bukowina verstärkt wurde, dauernd hier blieben und durch dieses Gesetz, das nur gemacht ist, um die Teilnahme an der Wahl zur Konstituante zu ermöglichen, die Möglichkeit des dauernden Hierbleibens und der Erwerbung der Staatsbürgerschaft bekämen.

[...] Die Anregung, die ich damals gegeben habe [...] ist vom Ausschusse verwertet worden, indem [...] aus dem gedanklichen  Inhalte meines Vorschlages das Alinea II des § 2 gemacht wurde und nun sollen wir hier das Wort Bukowina ausschalten. Die Fügung des ganzen Alineas II des § 2 hat den Zweck, Personen deutscher Abstammung, die außerhalb des derzeitigen deutschösterreichischen Staatgebietes heimatberechtigt sind, die Rückkehr zur deutschösterreichischen Staatszugehörigkeit zu ermöglichen, hat aber auch den Zweck, diese Erwerbung der deutschösterreichischen Staatsbürgerschaft den galizischen Flüchtlingen unmöglich zu machen.

Nun war von einzelnen Parteien und gewiss auch von den einzelnen jüdischen Mitgliedern des Ausschusses ja wohl nicht zu verlangen, dass sie einem so ausgeprägten antisemitischen oder antisemitisch scheinenden Antrag ihre Zustimmung geben sollten. Es wurde deshalb die Antrage in der Formulierung, wie man sie hier gesucht hat, ein Feigenblatt vorgegeben. Es wäre ja gar zu schrecklich gewesen, wenn diese Herren in den Verdacht gekommen wären, Antisemiten zu sein. Man hat infolgedessen nicht nur die Galizianer und Bukowinaer ausgeschaltet, sondern hat auch die Dalmatiner und Istrianer hinzugefügt, obwohl ich nicht weiß, gegen wen da eigentlich geschossen wird ...

[...] Es bietet sich also den deutschen Beamten der Bukowina die Möglichkeit, ohne weiteres die Staatsbürgerschaft hier zu erwerben, und zwar brauchen Sie sich nur bei einer österreichischen Gemeinde um die Zusicherung der Aufnahme in den Gemeindeverband zu bewerben und die bekommen deutsche Beamte gewiss leicht, Juden bekommen sie aber nicht. Etwas nationales Gefühl und etwas von Rassengefühl muss man bei den Bewohnern Deutschösterreichs doch voraussetzen.
[...] Ich bitte deshalb, weil die Gefahr besteht, dass wir ein paar Hundert Bukowinaer Juden hier behalten könnten, den Antrag des Herrn Reschmann abzulehnen ...

Protokoll: 6. Sitzung der prov. Nationalversammlung, S. 179 - 181
Transkription: Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

Abgeordneter Dr. Ofner: Der Antrag, der nunmehr der Nationalversammlung vorliegt, ist wohl nicht ganz dem Antrage entsprechend, den die Staatskanzlei dem Staatsrate vorgelegt und den ich referiert hatte, weil dieser die volle Konsequenz, des Optionsrechtes gezogen und jedem, welcher hier wohnt, auch Recht gegeben hätte, für Deutschösterreich zu optieren.

Damals hat, wie die Herren wissen, der Herr Abgeordnete Wolf die Frage der Flüchtlinge angeregt. Nun waren wir in Bezug auf die Flüchtlinge derselben Ansicht, nur nicht aus dem Grunde des Herrn Abgeordneten Wolf, sondern deshalb, weil Flüchtlinge keinen dauernden Wohnsitz hier nehmen wollen und weil wir selbstverständlich auf den Wohnsitz das Gewicht legten. Deshalb ist dieser Antrag angenommen worden.

[...] Wir haben aber vor, und ich weiß, dass diese Stimmung überwiegt, dass wir überhaupt das Staatsbürgerrecht von dem Heimatrecht in der Gemeinde loslösen, so wie es in Deutschland der Fall ist [...] .

Dieses Gesetz will ja nur die Maßnahmen treffen, welche notwendig sind, weil das alte Österreich in eine Reihe von Nationalstaaten zerfallen ist und wir nunmehr eine neue Staatsbürgerschaft für diejenigen Personen schaffen müssen, welche jetzt keine haben, welche Österreicher sind, während es kein Österreich gibt, und von welchen man sich sagen muss, es müsse ihnen die Möglichkeit geboten werden, zu dem einen oder anderen Staate zu gehören.

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[...] Die Staatskanzlei hatte deshalb einfach den Wohnort genommen und gesagt, wer hier wohnt soll optieren. [...] Das wurde nun auf Antrag des Herrn Abgeordneten Wolf in der Weise modifiziert, dass nunmehr gewisse Länder ausgenommen worden sind.

[...] Ich halte dafür, - der Herr Abgeordnete Kelchmann hat ganz recht -, es ist wirklich ein Unterschied zwischen Galizien und der Bukowina, aus dem Grunde, weil in der Bukowina der ganze Unterricht, von der Volksschule angefangen bis zu den Mittel- und Hochschulen, ganz deutsch ist. Außerdem ist aber die Bukowina jetzt in der Gefahr, an den rumänischen Staat zu kommen, und es wären die Deutschen, welche weder rumänisch noch ruthenisch sprechen könne, welche nur deutsch denken und nur deutsch sich ausdrücken können, in diesem Staate verloren. Es würde sich also gewiss empfehlen, dass man der Bukowina das zugute hält. Ich werde auch für den Antrag Kelchmann stimmen.

Protokoll: 6. Sitzung der prov. Nationalversammlung, S. 181f
Transkription: Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

 

Mehrheitlich beschlossen wurde anschließend das Gesetz über die Staatbürgerschaft in Deutschösterreich, wie es im Gesetzt vom 5.Dezember 1918 über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht veröffentlicht wurde:

Die Provisorische Nationalversammlung des Staates Deutschösterreich hat beschlossen:

§ 1.
(1) Deutschösterreichische Staatsbürger sind alle Personen, die zur Zeit der Kundmachung dieses Gesetzes in einer Gemeinde der Deutschösterreichischen Republik heimatberechtigt sind.

(2) Sie hören auf es zu sein, wenn sie sich bis zum 30. Juni 1919 zu einem anderen Staate bekennen, zu welchem Gebietsteile der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehören.

§ 2.
(1) Durch die Erklärung, der Deutschösterreichischen Republik als getreuer Staatsbürger angehören zu wollen, erwerben die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft:
  I. Personen, die mindestens seit 1. August 1914 im Gebiete der Republik Deutschösterreich ihren ordentlichen Wohnsitz haben;
  II. Personen, die ihren ordentlichen Wohnsitz erst nach dem 1. August 1914 nach Deutschösterreich verlegt haben oder bis zur Wirksamkeit eines neuen, das Staatsbürgerrecht endgültig regelnden Gesetzes verlegen, sofern sie in einer außerhalb der Republik Deutschösterreich gelegenen Gemeinde des bisherigen Österreich mit Ausnahme Dalmatiens, Istriens und Galiziens heimatberechtigt sind. 

 

(2) Der ordentliche Wohnsitz im Sinne dieses Gesetzes wird durch eine lediglich infolge Heranziehung zur militärischen Dienstleistung oder zur persönlichen Dienstleistung auf Grund des Kriegsleistungsgesetzes bedingte Abwesenheit nicht unterbrochen.

§ 3.
Das im § 1 vorgesehene Bekenntnis und die im § 2 vorgesehene Erklärung sind schriftlich oder mündlich bei der politischen Bezirksbehörde des ordentlichen Wohnsitzes abzugeben. [...]

§ 4.
Die im § 2 genannten Personen sind vom Zeitpunkte ihrer Erklärung an deutschösterreichische Staatsbürger. Stellt sich jedoch bei einer Person nach abgegebener Erklärung heraus, dass die Bedingungen des § 2 nicht zutreffen, so hat die politische Landesbehörde ihre die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. [...]

Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1918, ausgegeben am 13. Dezember 1918, 20. Stück, S. 129
Transkription: Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

 


 

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Andreas Markt-Huter, 21-11-2008

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