Raphaela Edelbauer, Entdecker
Im Idealfall gleicht ein Buch dem ersten Lesebuch, das einem damals die Welt erschlossen hat. Man wird als Leser jung, neugierig, zukunftsfroh und vollends optimistisch, dass da etwas drinnen steht, was man sofort und für alle Zeit gebrauchen kann.
Raphaela Edelbauer nennt dieses Abenteuerbuch schlicht „Entdecker“, und da es um Dinge wie Phantasie, Sprache, Wissenschaft und Erkenntnis geht, nennt sich das Ganze eine Poetik. In diesem Lehrbuch über die entdeckerische Dichtkunst spielen Mineralien, Mikroorganismen, die Schwerkraft und ihre Kartographie die Hauptrolle.
Zu Beginn freilich gibt es eine strenge Gebrauchsanweisung, wonach man wichtige Dinge immer wieder lesen muss. Überhaupt wird mit dem Vorurteil aufgeräumt, dass das Lernen lustiges Larifari sei, Lernen ist vor allem Meditation und Disziplin.
Wie in allen „Sachbüchern“ spielt die graphische Aufbereitung eine große Rolle. Die Bilder sind natürlich pure Kunst, erreichen aber durch den Begleittext den Status von wissenschaftlichen Skizzen.
Im Bestiarium etwa sind Tiere gezeichnet, die sich aus Urzellen zu einem Motherboard entwickelt haben. Kristalle wuchern zu Innereien aus, und Motorblöcke sind so sanft gehalten, dass man sie in den nächsten Organismus einpflanzen könnte.
Wesentlich ist das Zusammenspiel von Sprache und Skizze. In Fachsprachen, wie sie Mineure, Geologen, Schiffsbauer aber auch Touristiker benutzen, werden völlig unerwartet neue Anwendungen eingepflanzt. Aus einer Entdeckungsreise wird die Aufweitung eines Darmverschlusses, aus einer astronomischen Gleichung entwickelt sich ein Brückenschlag mitten im Regenwald, aus einem Konvoi steigt plötzlich ein Konsonantengeschwader auf.
Suchen Sie in den Texten nicht die Welt, sondern in der Welt nach diesen Texten! (12)
Die einzelnen Entdeckungen sind durchaus spannend und wunderschön abstrus. So ist man gerade auf das Element Dementium gestoßen, das so hart ist, dass es nur mit sich selbst geschnitten werden kann. Ein Messer aus Dementium wäre demnach so scharf, dass es durch die Erde an den Antipoden sausen würde, wenn es mit der Spitze nach unten zu Boden fiele. (Im früheren Leben ist Dementium ein Horrorspiel für Nitendo gewesen.)
Immer wieder hört man nach unerhörten Vorgängen, dass diese oder jene Geschichte ab jetzt neu geschrieben werden müsse. Raphaela Edelbauer hat zur Vorsicht einmal gleich die ganze Naturgeschichte und ihre Ableger umgeschrieben. Entstanden ist eine wundersame Welt voller Überraschungen und die Erkenntnis, dass alles auch ganz anders sein könnte. „Entdecker“ ist eine raffinierte Poetik, mit der man das eigene Leben noch einmal führen kann, dieses Mal in einer anderen Logik.
Raphaela Edelbauer, Entdecker. Eine Poetik, mit Zeichnungen von Simon Goritschnig
Wien: Klever Verlag 2017, 171 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-903110-13-7
Weiterführende Links:
Klever Verlag: Raphaela Edelbauer, Entdecker
Wikipedia: Raphaela Edelbauer
Homepage: Simon Goritschnig
Helmuth Schönauer, 18-05-2017