Schreiben, Lesen und Lesenlernen in der Neuzeit 1

lesenleren mit buchstabenZu Beginn der Neuzeit erfuhr Schreiben und Lesen von verschiedenen Seiten nachhaltige Impulse. Neben dem wachsenden Interesse an antiken Schriften in der Renaissance, der raschen Verbreitung von Schriften durch den Buchdruck, leitete die Reformation einen bis dahin unbekannten Motivationsschub ein, breiten Teilen der Bevölkerung Lesen und Schreiben zu lehren.

Sowohl Humanismus als auch Reformation erfolgreich auf die neuen technischen Möglichkeiten einer raschen und vielfältigen öffentlich wirksamen Verbreitung von Texten, Nachrichten und Meinungen zurückgreifen. Die Reformation hatte aber nun nicht mehr die Gelehrten als Zielpublikum im Auge, sondern richteten sich systematisch an ein Laienpublikum. Neben der Schrift gewann auch das Bild als illustrierende Druckgraphik eine zentrale Bedeutung. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 741)

Lesen in der Frühen Neuzeit

Der Lesestoff der Reformation sprach mit unterschiedlichen Formaten, die von Flugschriften über Flugblätter und Zeitungen bis zu Büchern reichten, ein vielfältiges Publikum an. Menschen mit unterschiedlichsten Lesefähigkeiten sollte der Zugang zu den Leseinhalten ermöglicht werden. Dabei entwickelte sich die Flugschrift sehr rasch zum zentralen Massenkommunikationsmittel der Reformation, um die Leserinnen und Leser ebenso schnell wie günstig mit Informationen zu versorgen. Zudem waren Flugschriften billiger und weniger kapitalaufwändig als Bücher, auch ließen sich die Kosten relativ rasch wieder einbringen. Während Texte für Gelehrte wie gewohnt in lateinischer Sprache verfasst wurden, erfolgten erstmals Veröffentlichungen in großer Zahl in deutscher Sprache, um ein weniger gebildetes, breites Publikum ansprechen zu können. Zwischen 1520-1526, am Höhepunkt der Reformation, wurden ca. 10.000-11.000 Flugschriften mit einer Gesamtauflage zwischen 10-11 Millionen Stück veröffentlicht, Drei Viertel davon in deutscher Sprache. Als Bestseller erwies sich Luthers deutsche Bibelübersetzung, deren Erstausgabe mit 3.000 Stück bereits nach einem Jahr vergriffen war. Für die nachfolgenden Voll- und Teilausgaben darf bis zum Jahr 1546 von einer Millionenauflage ausgegangen werden. Der neue Stellenwert des gedruckten Wortes seit der Reformation schlug sich auch in den Schul- und Universitätsreformen dieser Zeit nieder. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 741-743)

Reformatoren wie Luther und Melanchton waren beispielsweise direkt „[…] an der Einrichtung von Elementarschulen, weltlichen Gymnasien und protestantischen Universitäten 1572 in Marburg, 1544 in Königsberg und 1558 in Jena beteiligt.“ (Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 742)

Abgesehen von der deutschsprachigen Bibel konzentrierte sich das traditionelle Bücherangebot aber weiterhin auf Bücher für den Wissenschaftsbereich in lateinischer Sprache. Dennoch lässt sich in den städtischen frühbürgerlichen Kreisen bereits im beginnenden 16. Jahrhundert, neben Fachprosatexten, wie Kräuterbücher, Kochbücher, und medizinische Ratgeber, ein zunehmendes Interesse an Unterhaltungsliteratur ausmachen. Gelesen wurden klassische Epen, in Prosa verfasste antike Dramen, Romane, wie z.B. „Die schöne Melusine“, Sammlungen von Schwänken, wie der „Eulenspiegel“, aber auch Chroniken und Legenden. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 743f)

flugschrift von den gottlosen hexen

Flugschrift Reinhard Lutz: Warhafftige Zeitung. Von den
gottlosen Hexen 1571
, Wikimedia: Flugschrift hexen

 

Verkauft wurden die populären Schriften von Kolporteuren und Hausierern, die ihre Schrifterzeugnisse vor allem auf dem Land meist direkt ins Haus lieferten. In den Städten spielten die Buchbinder für den Vertrieb von populären Schriften, Kalendern, Gesangsbüchern und Gelegenheitsdrucken eine bedeutende Rolle. Neben dem überregionalen Handel mit Büchern, Broschüren und Flugblättern begannen die Verleger den Buchhändlern ihr Bücherangebot auf den Buchmessen in Leipzig im Frühjahr und in Frankfurt im Herbst zu präsentieren. Bereits 1564 erschien der erste gedruckte Katalog zur Frankfurter Herbstbuchmesse. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 744)

Lesenlernen und Leseunterricht in der Frühen Neuzeit

Für das Lesenlernen gilt das didaktische Prinzip, dass die zu erlernende Sache Schülern verständlich vermittelt werden muss. Daraus ergibt sich als Sachebene ein sprachtheoretisches Verständnis von Schrift, sowie der Funktion, Struktur und dem Sinn schriftlicher Inhalte. Auf der Lernebene stellt sich die Frage, wie sich ein gezielter Zugang zu Schrift und Inhalten vermitteln lässt. Daneben spielen aber auch Fragen nach der Verständlichkeit von Inhalten und ihrer Bedeutung für die Lernenden eine wichtige Rolle.

Im Spannungsverhältnis der didaktischen Beurteilung von Sachebene und Lernebene sind die didaktischen Konzepte in der Geschichte der Lesepädagogik in ständigem Wandel begriffen. Dabei spielen politische und gesellschaftliche Erziehungsvorstellungen und Wertvorstellungen, sowie pädagogische Entwicklungen im Schulwesen, in der Lehrerausbildung und in der Erziehungswissenschaft eine entscheidende Rolle.

Der erste Schriftsprachunterricht war über lange Zeit von Fibeln geprägt, an denen sich die pädagogischen und didaktischen Veränderungen und Konzepte des Unterrichts im Laufe der Geschichte anschaulich erkennen lassen. Fibeln lassen aber auch erkennen, wie Kinder in ihrer jeweiligen Zeit gesehen wurden und was sie in den Augen der Erzieher lernen sollten.

Mit der zentralen Forderung der Reformation, dass jeder Gläubige selbst die Bibel und religiöse Texte lesen können solle, gewann die Notwendigkeit einer allgemeinen Leseerziehung in den protestantischen Ländern einen enormen gesellschaftlichen Schub. Lesestoff waren vorwiegend biblische, religiöse und moralisierende Texte. Gefolgt wurde dem reformatorischen Grundsatz „Sola scriptura“, nur die Schrift alleine zählt und nicht mehr das Wort von Autoritäten. Deshalb war jeder reformierte Christ verpflichtet, selbst die Bibel lesen und verstehen zu können. In diesem Sinne forderte Luther 1524 die Städte auf, christliche Schulen zu errichten und zu betreiben, um Jungen und Mädchen zu unterrichten. Gelehrt wurde mithilfe der sogenannten „Buchstabiermethode“, die für mehr als 300 Jahre Anwendung finden sollte. (Vgl. Horst Bartnitzky, S. 2f)

johann peter hasenclever, die dorfschule

Schulmeister und Kinder beim Unterricht mit der Buchstabiermethode in einer
preußischen Dorfschule des 19. Jahrhunderts. Johann Peter Hasenclever, 1845.

Wikimedia: Johann Peter Hasenclever - Die Dorfschule

 

Buchstabiermethode vs. lautgenetische Methode

Bei der Buchstabiermethode wurden die Buchstaben mit ihrem Buchstabennamen bezeichnet also „be“ für b, „en“ für n, „ha“ für h usw. Dazu mussten sich die Schüler den Laut zusammen mit der Schriftform einprägen. Anschließend wurden Silben oder kurze Wörter Buchstabe für Buchstabe ausgesprochen und danach die Silbe oder das Wort genannt. Das Wort „Hund“ liest sich aufgezählt somit als „ha-u-en-de“, womit die Schwierigkeiten dieser Leselernmethode sofort ins Auge stechen. Bereits 1527 kritisierte der deutsche Grammatiker Valentin Ickelsamer diese Methode:

„Auf diese Weise lernet keiner lesen, denn durch lange Gewohnheit.“ (Zitiert nach Horst Bartnitzky, S. 3)

Ickelsamer hielt dem die lautgenetische Methode entgegen, also die Buchstaben als Laute aus der gesprochenen Sprache zu lernen.

„Denn die buchstaben sind nichts anders, denn teyle eines worts mit den natürlichen instrumenten der zungen und des munds gesprochen.“ (Zitiert nach Horst Bartnitzky, S. 3)

Dabei sollte den Lernenden gezeigt werden, wie die Laute im Mund entstehen, z.B. ein „m“ ist wie die Kuh brummt. (Vgl. Horst Bartnitzky, S. 3)

erfindung des buchdrucksDie Erfindung des Buchdrucks ermöglichte es Lernmaterialien für den Unterricht kostengünstig herzustellen. Wikimedia: Französische Druckerwerkstatt zu Beginn des 16. Jahrhunderts

 

Bereits in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erschienen verschiedene Lehrschriften und Handbücher zur Didaktik für Leseanfänger aber auch Grammatiken und Übungen, die von Leitern privater Lese- und Schreibschulen verfasst wurden. 1530 erschien die Lesedidaktik „Enchiridion: das ist Handbüchlin tütscher Orthographie“ von Johannes Kolroß, 1533 die systematische Lautlehre „Leyenschul. Wie man Künstlich vnd behend/schreyben vnnd lesen soll lernen“ von Peter Jordan Schrift und 1534 Jacob Grueßbeutels Lehrbuch „Eyn besonder fast nützlich stymmen büchlein mitfiguren“. Die wichtigsten Bücher auf dem Gebiet des Lesenlernens im 16. Jahrhundert verfasste jedoch Valentin Ickelsamer mit seinem Leselehrbuch „Rechte weis, aufs kurtzist lesen zu lernen“ aus dem Jahr 1527 und die wenige Jahre später veröffentlichte „Teütsche Grammatica“. (Vgl. Hans Rudolf Velten, S. 32)

Valentin Ickelsamer war nicht nur in der neuen Leselernmethode nach Lauten bahnbrechend, sondern versuchte mit Hilfe seiner Schriften auch das Lernen ohne Lehrmeister zu vermitteln. Damit sollte Lesenlernen auch mit Hilfe von Eltern, Freunden, Berufskollegen u.a., die bereits lesen können, möglich sein. Dabei ersetzte die Methode des Lautierens die traditionelle Methode des Buchstabierens, bei der die Zeichen im Mittelpunkt standen. Bei der Lautmethode erfolgte nun zunächst die auditive Analyse vor der sprechmotorischen Analyse, um schließlich die Zuordnung von Laut und Zeichen herzustellen. Wichtig war es an die oralen Erfahrungen der Schüler mit ihrer Muttersprache anzuknüpfen und erst in einem späteren Schritt auf die Schriftsprache überzuleiten. (Vgl. Hans Rudolf Velten, S. 40-42)

Die Erfindung des Buchdrucks und die beginnende marktwirtschaftliche Vertreibung von Büchern und Schriften beeinflusste auch die Formen des Lernens und des Unterrichts. Nun stand Wissen in Schriftform allen die lesen konnten in bis dahin ungeahntem Ausmaß zur Verfügung. Das Lesenlernen gewann an Prestige und eröffnete über Bücher, Schriften und Flugblätter den Weg zu Wissen und Information, um sich an religiösen und politischen Diskussionen zu beteiligen. (Vgl. Hans Rudolf Velten, S. 34-36)

Lesen und Vorlesen in der frühen Neuzeit

Bis ins frühe 18. Jahrhundert blieb die soziologische und strukturelle Zusammensetzung des Lesepublikums sowie sein Anteil an der Gesamtbevölkerung relativ konstant. Aus dem rekonstruierten Buchbesitz mancher wohlhabender Kaufleute ergibt sich, dass regelmäßig gelesen wurden. Dies lässt sich in geringerem Ausmaß aber auch für Handwerker und Kleinhändler nachweisen. Dabei spielten Lesen, Vorlesen und Zuhören eine gleichwertige Rolle. Theateraufführungen in den Städten wurden von allen sozialen Schichten besucht und auch das Vorlesen von Zeitungen blieb in ländlichen Gebieten bis weit in die Neuzeit hinein gängige Praxis. So lebte das kollektive Vorlesen neben dem individuellen, stillen und leisen Lesen weiterhin fort. Im religiösen Bereich stand beim Lesen die spirituelle Erfahrung im Zentrum des Leseprozesses, weshalb Gläubige aller Glaubensrichtungen zum Lesen von Bibel, Andachtsbüchern und Erbauungsbüchern angehalten wurden. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 745)

Trotz eingeführter Schulpflicht stagnierte im 17. Jahrhundert die Alphabetisierungsrate in manchen Städten und Regionen. Besonders einschneidend für die Ausweitung der Lesekompetenz war der Rückgang der Buchproduktion während des 30-jährigen Krieges von 1.600 Buchtiteln auf 600 Titel im Jahr. Es dauerte 150 Jahre um sich in diesem Bereich von den Folgen des Krieges wieder zu erholen. Verkauft wurden vor allem Bücher in lateinischer Sprache für ein gelehrtes Publikum, das aus beruflichen Gründen las. Im Gegensatz zu den Büchern erlebten Zeitungen, die weite Bevölkerungskreise erreichten, in dieser Zeit einen rasanten Aufschwung. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 746)

Große umfangreiche Bibliotheken finden sich in der Frühen Neuzeit bei Gelehrten und an den Höfen der Herrschenden, die in ihren Hofbibliotheken nicht selten mehrere zehntausend Bücher umfassende Sammlungen aufwiesen. Diese dienten vor allem Repräsentationszwecken und als kulturelles Gedächtnis. Dabei übten sich die Fürsten in den verschiedensten literarischen Rollen, vom Erwerben und Sammeln bis zum Lesen, Schreiben und Übersetzen von Büchern. Mit der beginnenden Aufklärung wurden die Hofbibliotheken auch für ein breiteres Publikum geöffnet. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 748f)

Nationalbibliothek Wien

Prunksaal der Hofbibliothek in Wien in der Wiener Hofburg.
Wikimedia: Nationalbibliothek Wien

Die Privatbibliothek der Gelehrten präsentierten sich zwar erheblich kleiner als die Hofbibliotheken, blieben jedoch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Basis und das zentrale Arbeitsinstrument für die wissenschaftlichen Studien. In den Sammlungen der Gelehrten zeigt sich der universelle Anspruch dieser Zeit, in der Lesen und Schreiben beim gelehrten Leser untrennbar miteinander verbunden waren. Erst mit der Ausbildung spezifischer Fachgebiete, begannen sich auch die Bibliotheken zunehmend zu spezialisieren. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 749)

Lesen in der Zeit der Aufklärung

Lesen- und Schreiben lernen gehörte zu den zentralen Forderungen der Aufklärung, die den Menschen als vernunftbegabtes Wesen betrachtete, das zu rationalen Entscheidungen und vernünftigem Handeln fähig sei. Mit ihren Leitbegriffen Vernunft, Rationalität, Humanität, Kritik, Öffentlichkeit, Toleranz und Tugend leitete die Aufklärung in politischer, kultureller und soziologischer Hinsicht einen gesellschaftlichen Wandel ein. Über Bücher und Zeitschriften in deutscher Sprache wurde gezielt versucht, ein breites, lesefähiges Publikum anzusprechen. Erschienen im Jahr 1600 nur ungefähr 29 % der Druckwerke in deutscher Sprache, waren es 1681 bereits 52 % und im Jahr 1800 ganze 96%. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 749f)

In der Zeit der Aufklärung kamen neue Lesestoffe auf und wurden in den unteren sozialen Klassen neue Leserschichten erschlossen. Die Zunahme von Schulen aber auch die ökonomischen Interessen des Buchhandels förderten zudem neue Lesepraktiken, die über die Wissensvermittlung und religiöse Erbauung hinausgingen. Die Nachfrage nach Unterhaltungsliteratur aber auch der Wunsch nach Information zu aktuellen Ereignissen in Zeitungen wuchs ständig. So erlebte speziell der Unterhaltungsroman ab der Mitte des 18. Jahrhunderts einen außergewöhnlichen Aufschwung. Ebenfalls beliebte Lesestoffe waren Reisebeschreibungen, Schauspiele, Lyrik, sowie populärwissenschaftliche Schriften zu Geschichte, Naturkunde u.a., aber auch Almanache und Lifestyle-Zeitschriften. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 750f)

Die Lesestoffe mussten von Privatpersonen entweder selbst gekauft oder in kommerziellen Leihbibliotheken ausgeliehen werden. Dabei verfasste die sogenannte „Volksaufklärung“ eigene Lesestoffe für verschiedene soziale Milieus wie die Landbevölkerung, Dienstboten, kleine Handwerker und Tagelöhner, die aufgrund mangelnder Bildung und sozialer Mittel ansonsten vom literarischen Leben ausgeschlossen geblieben wären. Als Lesestoff für Männer waren religiöse Schriften wie Andachtsbücher, Katechismus, Neues Testament u.a. sowie Kalender für die praktische Lebenshilfe, Volksbücher des späten Mittelalter, Wissensbücher u.a. angedacht. Beigefügte Anweisungen und Anleitungen zum Lesen unterstützten die selbständige Lektüre. Dabei wurden auch praktische Ziele verfolgt, indem Bauern durch Ratgeber dazu gebracht werden sollten, ihre landwirtschaftliche Produktion zu steigern. Im Mittelpunkt der aufklärerischen Lektüre standen vor allem die Beseitigung von Aberglauben, Handlungshilfen für den Alltag und die Einordnung von Informationen mit Hilfe der Vernunft. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 751f)

geord jakobides, lesendes mädchen

Wichtiges Ziel der Aufklärung war es auch Frauen Bildung durch Lesen und
Schreiben zu vermitteln. Wikimedia: Georgios Jakobides, Lesendes Mädchen ca. 1882

 

Ziel der Aufklärung war es auch Frauen Bildung durch Lesen und Schreiben zu vermitteln. Dabei entwickelten sich die bürgerlichen Frauen zur wichtigsten Zielgruppe für die expandierende Romanliteratur. In periodischen „Frauenzimmerbibliotheken“ finden sich Lektüreempfehlungen für das weibliche Geschlecht mit philosophischen und populärwissenschaftlichen Schriften, wie Friedrichs Schillers „Historisches Taschenbuch für Damen“ oder Anweisungen zur tugendhaften Lebensführung, wie Sophie LaRoches „Pomona für Deutschlands Töchter“. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 752f)

Mit dem Aufkommen der Reformpädagogik ab den 1770-er Jahren erlebten Kinderbücher ihren ersten Aufschwung. Dies geht auch auf die neue Betrachtungsweise der Kindheit als eigenen Lebensabschnitt mit eigenen Bedürfnissen zurück, was sich auch in einer spezifischen Literatur widerspiegeln sollte. Die Buchhandlungen griffen diese Entwicklung rasch auf und boten eine speziell für Kinder und Jugendliche konzipierte Lektüre an. Johann Heinrich Campe, ein Pädagoge, Verleger und Schriftsteller bearbeitete 1779 beispielsweise Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ in seinem Kinderbuch "Robinson der Jüngere" nach einem pädagogisch-didaktischen Konzept. Sein Jugendbuch erlebte bis zum Jahr 1848 beachtliche 40 Auflagen. Neben Bilderbüchern erschienen auch Kinderzeitschriften wie 1773 bis 1774 das „Leipziger Wochenblatt für Kinder“, das zu 85 % aus dem Bürgertum abonniert wurde und nur zu ca. 9 % aus dem Adel und 6 % aus den niederen Ständen. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 753f)

Ab dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts bildete sich zunehmend eine neue Art zu lesen aus. Galt stilles Lesen früher als Lesepraxis der Gelehrten, wurde stilles und individuelles Lesen nun zum verbreiteten Habitus eines Bürgertums, das in der Literatur nach Unterhaltung in einsamen Stunden sucht, um dem Alltagsleben zu entrücken. Dazu hieß es im „Journal des Luxus und der Moden“ aus dem Jahr 1796:

„Jedes Frauenzimmer von guter Erziehung und Cultur hat gewiss immer einige Lieblingsbücher und -schriftsteller zur Unterhaltung und Nahrung ihres Geistes in einsamen Stunden, und kann also, ohne sich das nachtheilige Ansehen zu geben, die gelehrte Frau zu spielen, einen kleinen Bücherschrank in ihrem Zimmer haben, der ihre litterarischen Lieblinge in sich fasst.“ (Zitiert nach Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 754)

Mit der neuen Art des stillen Lesens, wurde das Lesen selbst tief in den privaten Bereich entrückt, es wurde individueller, entzog sich einer sozialen Kontrolle und blieb dennoch offen für Gespräche und Diskussionen. Der Buchmarkt erlebte mit dem Wunsch des Publikums nach Novitäten einen beachtlichen Aufschwung und versorgte die wachsende Zahl an Leserinnen und Lesern mit Novitäten. Die Darstellungen von Lesenden auf Kupferstichen, wie beim Lesen in der Natur oder das Lesen eines Buches am Tisch spiegelten den neuen gesellschaftlichen Stellenwert des Lesens im Bürgertum wider. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 756)

Kollektives Lesen

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden in Deutschland Lesezirkel, Lesebibliotheken und Lesekabinette, in denen, ganz im Sinne der Aufklärung, über das Gelesene gemeinsam kritisch diskutiert wurde. Aufgrund der Höhe der Mitgliedsbeiträge kamen die meisten Mitglieder dieser Literaturzirkel aus dem gehobenen Bürgertum und niederen Adel, wobei Frauen und Studenten ausgeschlossen blieben. Gelesen und diskutiert wurden Schriften zu den Themen Information, Bildung und Belehrung, während Romanen eine untergeordnete Rolle zukam. Mit der Französischen Revolution gerieten die Lesezirkel rasch unter den Verdacht der politischen Agitation. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 757f)

das lesekabinett


In den Lesezirkeln der Männer wurden Schriften zu den Themen Information,
Bildung und Belehrung gelesen und diskutiert.

Wikimedia: Johann Peter Hasenclever, Das Lesekabinett 1843

 

Den Lesezirkeln gegenüber standen literarische Salons, in denen die literarisch-ästhetische Kreativität und freundschaftliche Geselligkeit im Zentrum standen. Die Salons, die von adeligen und bürgerlichen Frauen gegründet wurden, erwiesen sich als Orte der Literaturproduktion, Literaturverbreitung und Literaturkritik, die auch von bekannten und aufsteigenden jungen Schriftstellerinnen und Schriftstellern besucht wurden. Die aristokratisch geprägten Rokkokosalons orientierten sich am französischen Vorbild, während die bildungsbürgerlichen Salons ganz der Aufklärung verpflichtet waren. Das Ziel der Salons bestand in der Vermittlung literarisch-ästhetischen Genusses und des sozialen Austauschs, im Gesprächs und in der Kritik von Literatur, die durch das individualisierte Lesen eröffnet worden war. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 757)

Mit dem neuen Phänomen des individuellen, leisen Lesens und der zunehmenden Zahl an Leserinnen und Lesern erlebte auch die Diskussion über die Kulturtechnik des Lesens und die Lesestoffe selbst eine neue Dimension. Vor allem die unterhaltende Literatur brachte zunehmend Kritiker auf den Plan, die eine wachsende Lesewut und Lesesucht auszumachen glaubten. Die verbreitete Kritik der Vielleserei richtete sich vor allem gegen Frauen, denen u.a. eine Vernachlässigung des Haushalts und der öffentlichen Pflichten vorgeworfen wurde. Der unreflektierte Umgang mit Unterhaltungslektüre galt als dem aufklärerischen Ziel der Bildung, des Wissenserwerbs und der Vermittlung von Tugenden entgegengesetzt und sowohl als Gefahr für die Regierung und sittliche Ordnung als auch als gesundheitsgefährdend und Flucht aus der Realität. (Vgl. Ute Schneider, Frühe Neuzeit, S. 758)

 

Verwendete Literatur:

Ute Schneider, Frühe Neuzeit. In: Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Hsg. von Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Berlin 2015, S. 739-763
Horst Bartnitzky, 500 Jahre Alphabetisierung: Auf der Suche nach sach- und zugleich kindgerechtem Schriftspracherwerb
Hans Rudolf Velten, Frühe Lese- und Schreiblernbücher des 16. Jahrhunderts. Zu Valentin Ickelsamers Die rechte weis, aufs kürtzist lesen zu lernen (1527) und Teütsche Grammatica (1532?). In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2012
Gisela Teistler, Schulbücher als bildungsgeschichtliche Quellen: das Beispiel der Fibel. In: Eckert Beiträge 2009/6
Achim Doppler, Standesgemäße Literalität. Praktiken des Lesens und Schreibens. In: Niederösterreich im 19. Jahrhundert 2021
Ute Schneider, Moderne. In: Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Hsg. von Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Berlin 2015, S. 765-791


 

Titelbild: Wikimedia: Ein heylsame lere und predig. Johann Geiler von Kaysersberg 1490

Andreas Markt-Huter, 03-06-2024

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