Bernhard Setzwein, Kafkas Reise durch die bucklige Welt
Aufregende Vorstellung: Franz Kafka hat 1924 seinen Tod nur vorgetäuscht, ist untergetaucht, hat die Nazis überlebt und erscheint nach 1945 in Meran, wo er im Apollo-Kino Karten abreißt. Als Qualifikation für diese Tätigkeit dient ihm die eigene Erzählung vom Türhüter, welcher bekanntlich streng darauf achtet, dass niemand Falscher das Gebäude betritt.
Bernhard Setzwein schöpft mit seinem Roman „Kafkas Reise durch die bucklige Welt“ in vollen Zügen aus dem Mythos „Kafkaniens“. In diesem Reich halten sich das Groteske, Bürokratische und Entgleiste die Waage. Südtirol ist als wundersamer Fixpunkt verankert: Seit 1920 Franz Kafka eine schwere Depression in Meran zu lindern versucht, wird in der Literaturszenerie diese Kurstadt zum Inbegriff für schwermütige Heilungsversuche.
Im Roman kommt es um 1960 zu einer außergewöhnlichen Begegnung zweier Welt-Dichter.
Nach Betriebsschluss im Kino strolcht Kafka (Der Herr Doktor) noch durch die Stadt und bleibt vor einem Hotel hängen, aus dem gerade ein armer Mensch mit Koffer auf den Gehsteig geworfen wird. Kafka interessiert der Koffer mehr als der Mensch, zumal aus dem Koffer Texte herauslugen, die den seinen ähnlich sind.
Notgedrungen kommen die beiden ins Gespräch, als der Mensch einen Fiat Ollearo stiehlt und der Herr Doktor gezwungenermaßen auch auf den Unbekannten eingehen muss, will er dessen Texte lesen.
Bevor die „verstohlene“ Fahrt losgeht, legen die beiden Protagonisten ihre Rollen im Roman fest. Der eine ist Kafka, der sich vom Krebs hat befreien können, indem er alle seine bisherigen Rollen aufgegeben hat und ins Inkognito geflüchtet ist. Der andere ist der polnische Schriftsteller Marek Hlasko, der schon von seiner literarischen Natur aus im Inkognito lebt und nur einmal mit der Verfilmung seines Romans „Der achte Wochentag“ (1957) Bekanntheit erlangt hat.
In der Folge entwickelt sich ein „Literatur-Road-Movie“, die beiden fahren eine echte Route mit scheinbar fixen Stationen und Personen ab, in Wirklichkeit handelt es sich aber um ein motorisiertes Flanieren entlang literarischer Stationen aus der Literaturgeschichte.
Als sie über Jaufenpass und Pustertal Südtirol verlassen, stoßen sie auf einen „Bummser“, der, wie damals in den 1960ern im Dschungel Japans üblich, noch nichts vom Kriegsende gehört hat und deshalb wie aufgezogen weiterkämpft. Er erklärt den verdutzten Literaturvagabunden den wahren Sinn Südtiroler Politik.
Nächste Station ist Graz, wo Alfred Kolleritsch noch einmal an seine Anfänge zurückkehrt und die Zeitschrift „manuskripte“ zu Show-Zwecken neu gründet. In der angrenzenden Buckligen Welt hat der Bauer Franz Gsellmann sich von der Landwirtschaft zurückgezogen und die Weltmaschine der Sinnlosigkeit entwickelt. Sein Motto: „Gott wird mir in der andern Welt eine schöne Arbeit geben.“ (165)
Bald stößt auch eine junge aufstrebende Dichterin vom Land zur illustren Gesellschaft, sie übt an einem Gestus, wie man ihn später Ingeborg Bachmann zuordnen wird. Es beginnt eine heftige Verführung Mareks. In dieser buckligen Welt nämlich verschwinden ständig die Grenzen zwischen Fiktion und Angelesenem, Textentwurf und Erlebnis, Erotik und Animalischem.
Während Marek und die Landdichterin gut ins körperliche Geschäft vertieft sind, wird Kafka von den Geistern seines Schlosses heimgesucht. Die Insassen des Schlosses machen längst Literaturevents und lassen den ursprünglichen Autor verklemmt und alt aussehen.
Auf den anstehenden Trips nach Wien und München, wo Kafka an seine Erlebnisse zu Lebzeiten anknüpfen will, wird viel über das Schicksal seiner Geliebten und Schwestern geredet, die alle durch die Nazis umgekommen sind. Hier kann Marek ebenfalls mitreden, hat er doch als Entkommener des Warschauer Ghettos ähnliche Erfahrungen.
Die deklariert groteske Ausdrucksweise dieser Trauerarbeit ist ein subtiler Versuch, einen Ton anzuschlagen, der dem oft erwähnten Kafka-Humor gerecht wird, ohne den Ernst der angesprochenen Zeitgeschichte zu verraten.
Befreiung von sprachlichem Gegrübel schafft schließlich H. C. Artmann in Wien, der mit der Sprache ordentlich ums Eck fährt. Ähnliches ereignet sich später in München, wo aus den Bierkrügen der Ungeist des Münchner Putsches und seine absurde Dokumentation durch Karl Valentin seltsam verquickt emporsteigen.
Das Ende ist unkompliziert wie der Anfang. Marek stellt den Fiat ab und winkt sich mit einem Gruß aus der Szenerie, Kafka sitzt auf der Parkbank und spielt alle seine geschriebenen Figuren durch, wie die sich wohl durch die Gegenwart schlagen würden. Er kommt zu keinem Ende, er hat einfach zu viele Denkmöglichkeiten im Auge.
Bernhard Setzwein hat nach seinem Nietzsche-Jubiläumsroman „Nicht kalt genug“ (2000) abermals einen prächtigen Jubiläumsroman geschrieben, der sich aus den Feiern zum 100sten Todestag Kafkas elegant hervorhebt. Es wird nämlich nicht mehr und nicht weniger behauptet, als dass sich Kafka neu erfinden müsste, wenn er noch am Leben wäre. Die Welt nämlich ist zu buckelig für eine gerade Linie.
Bernhard Setzwein, Kafkas Reise durch die bucklige Welt. Roman
Viechtach: Lichtung Verlag 2024, 304 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-941306-64-6
Weiterführende Links:
Lichtung Verlag: Bernhard Setzwein, Kafkas Reise durch die bucklige Welt
Wikipedia: Bernhard Setzwein
Wikipedia: Franz Kafka
Wikipedia: Marek Hlasko
Helmuth Schönauer, 10-05-2024