johannes voskuil, der tod des martin koningIn einem Biologen-Witz werden die Fische in Süßwasser- und Meerwasser-Tiere eingeteilt, die Menschen hingegen in Sauerstoff- und Büroluft-Atmer. Das Büro ist dabei ein eigenes Biotop, in dem alle lebensnotwendigen Zutaten künstlich hergestellt werden müssen. Physikalisch lässt sich ein Büro mit einem Raumschiff vergleichen, das mit vollendeter Schwerkraftlosigkeit an Bord durch das Weltall zischt, bis es verglüht.

Johannes J. Voskuils Kosmos „Das Büro“ glüht in seinem siebten Teil seinem Ende entgegen. Vor sechs Bänden ist Marteen Koning zufällig an einem Amsterdamer Volkskunde-Institut vorbeispaziert und tatsächlich eingestellt worden.

thomas macho, das leben nehmen„Im übertragenen Sinn beginnt jede Karriere eines Selbstmörders mit einem Hungerstreik.“ (257)

Der Kulturphilosoph Thomas Macho nimmt dem Tabu-Thema Suizid die erste Verbunkerungsmöglichkeit, indem er das Thema scheinbar beiläufig analysiert wie alles, was in Geschichte, Film und Literatur in den letzten Jahrhunderten so vorgekommen ist. Das Zitat vom Hungerstreik geht auf Hermann Burger zurück, der seine Literatur offensichtlich auf den Suizid hin komponiert hat. Und einmal ins Fahrwasser der Diskussion gelangt, gibt es fast nichts, was nicht mit einem Suizid zu tun haben könnte. „Wem gehört mein Leben?“ Nicht umsonst steht als Abspann diese Frage auf dem hinteren Cover.

gerhard henschel, erfolgsromanDie größte Frage, die einen denkenden Menschen bewegt, lautet in etwa: Wie liegt meine mickrige Biographie in der Geschichte? Tatsächlich wird man im Laufe des eigenen Lebens unsicher, was nur für einen selbst interessant ist und was für eine größere Allgemeinheit.

Gerhard Henschel stellt sich dieser Frage mit seinem Giga-Projekt diverser Gattungs-Romane. Mittlerweile gehört es schon zum nützlichen Besteck des Reflektierens, dass man sich alle zwei Jahre den neuesten Henschel holt, um ein Stück unmittelbarer Zeitgeschichte durchzugehen und dabei das eigene Leben zu verorten.

wolfgang streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie„Dieses Buch steht, wie vieles, was heute geschrieben wird, in der Tradition Karl Polanyis. Gegenstand jeder politischen Ökonomie in seiner Nachfolge, theoretisch wie praktisch, ist die gesellschaftliche Einbettung der unter dem Liberalismus losgelassenen kapitalistischen Ökonomie – die Sozialisierung der Ökonomie zur Verhinderung der Verwirtschaftung der Gesellschaft. Einbettung heißt Rückgewinnung gesellschaftlicher Kontrolle über den Selbstlauf selbstregulierender Märkte.“ (S. 9)

Wolfgang Streeck geht der Frage nach den Ursachen zunehmender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verwerfungen sowie den schwindenden politischen Lösungsmechanismen in unserer globalisierten Welt nach und stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Globalismus und Demokratie. Liegt die Lösung in mehr überstaatlicher Zentralisierung oder kleineren staatliche Einheiten?

siegfried hetz, wo dollfuß baden gingGeschichte wird oft mit einem Schachspiel verglichen, bei dem die Regeln erst hintennach erkennbar sind. Das menschliche Spiel wird dabei aufgezeichnet als Helden-, Ideen- oder Ortsgeschichte. Je nachdem, aus welchem Beobachtungswinkel man die Geschichte betrachtet, entstehen mehr oder weniger nützliche Anekdoten für den wirtschaftlichen Gebrauch.

Als Überraschungsgeschichte gilt jeweils das Zusammentreffen von Orten mit Helden. Dabei ist nicht klar, ob die Person nun den Ort adelt oder der Ort den Helden. Wenn du als Ort Pech hast, kriegst du statt eines gefeierten Stars ein Arschloch in die Annalen gesetzt. Von der Inntaler Gemeinde Braunau her kennen wir das ewige Jammern, der Ort wäre so schön, wenn er nicht diesen braunen Flecken hätte.

andreas von westphalen, die wiederentdeckung des menschen„Was wäre, wenn der Mensch eine falsche Vorstellung von seiner eigenen Natur hat? Was wäre, wenn wir uns über so etwas Existenzielles täuschen wie unser eigenes Wesen? In diesem Buch werden wir uns gemeinsam auf die Reise zu einem weithin unbekannten Wesen aufmachen, einem ebenso faszinierenden wie beeindruckenden Geschöpf: dem Menschen.“ (S. 11)

Andreas von Westphalen kritisiert das Menschenbild, das den meisten gegenwärtigen Wirtschaftstheorien und dem neoliberalen Wirtschaftsdenken zugrunde liegt und den Menschen als faul und auf den eigenen Gewinn und Vorteil ausgerichtetes Wesen betrachtet, das unter Konkurrenzdruck seine besten Leistungen vollbringt. Ein Bild über die Natur des Menschen, das mittlerweile fatale Folgen zeitigt.

jonathan aldred, der korrumpierte mensch„Im Laufe der vergangenen etwa 50 Jahre haben »neue« Ideen, wie wir uns verhalten sollten, unser Denken korrumpiert. Inzwischen sehen wir Schwarz als Weiß an, Schlechtes als Gutes: Es ist moralisch unmoralisch zu sein. Dieser Wandel hat enorme Auswirkungen, wurde jedoch durch viele kleine, kaum erkennbare Schritte erreicht.“ (S. 9)

Jonathan Aldred taucht tief in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts ein um aufzuzeigen, wie das wirtschaftliche Denken und die Idee von freien Märkten, die alle Bereiche unseres Lebens regulieren sollen, zunehmend unser ethisches Verhalten und unseren Alltag beeinflussen.

felix philipp ingold, die blindgängerinEine sorgfältige Erzählung kümmert sich auch um das Umfeld, in welchem sie entstanden ist. Die Erzählsituation wird gemeinsam mit dem Leser in Frage gestellt. Erzähl-beruhigende und -aufwühlende Hinweise halten sich die Waage.

Felix Philipp Ingold geht gleich mit einem spektakulären Doppelbild mitten in die Erzähl-Sache. Er berichtet von einem Jeep, den der Erzähler offensichtlich restauriert hat, es gibt nämlich ein Altar-ähnliches Flügelbild mit dem Jeep vor und nach der Restaurierung. Aber auch der Autor wird gleich in Frage gestellt, schließlich handelt es sich bei Felix Philipp Ingold um einen Kunstnamen, den sich der Ich-Erzähler spaßhalber zugelegt hat, weil das Wort Felix darin vorkommt.

gerhard henschel, fussballfieberEin Literatur-Genre ist für den Leser nur zweimal interessant: einmal, wenn es erfunden wird, und ein andermal, wenn es beendet wird. Dazwischen liegt Massenware, die der kluge Leser beiseite lässt, um das Leben nicht mit finsteren Wetterlagen im Kopf zu belasten.

Gerhard Henschel hat sich ein verrückt gutes Konzept für seine Romane zurechtgelegt. Er beendet einfach die jeweiligen Genres, indem er sie ad absurdum und somit zur Vollendung führt. Nach ihm gibt es keinen Arbeiter-, Liebes- oder Bildungsroman mehr, er sprengt sie alle mit ihrem eigenen Erzählstoff. Jeder Genre-Roman implodiert, wenn man ihm die Vorlage nimmt. Mit der Fließbandtheorie könnte man sagen, die Fließbandarbeit ist zu Ende, wenn das Fließband abgebaut ist.

elke steiner, über das licht gedrehtDie schaurige Geschichte vom Erlkönig, der mit seinem toten Kind durch den eigenen Wahnsinn reitet, lässt sich auch psychologisch deuten. Da identifiziert sich ein Held so heftig mit der Rolle, dass er die Geschichte mit toten Bruchstücken zu Ende bringt, auch wenn die Story schon tot geritten ist.

Elke Steiner zeigt in ihrem Roman „Über das Licht gedreht“ eine Heldin, die mit dem Verlust ihrer frühgeborenen Tochter nicht zurecht kommt und durchdreht. Gleich zu Beginn steigt Hanna spät in der Nacht in einem Hotel ab, sie ist von der Anfahrt verwirrt. Nach dem Einchecken merkt sie, dass sie ihre Tochter Emmelyn (mit Ypsilon) im Auto vergessen hat. Das Personal wundert sich noch, wie man so ein Kind vergessen kann, aber die Müdigkeit scheint auch verrücktes Verhalten erklärbar zu machen.