Jonathan Aldred, Der korrumpierte Mensch

„Im Laufe der vergangenen etwa 50 Jahre haben »neue« Ideen, wie wir uns verhalten sollten, unser Denken korrumpiert. Inzwischen sehen wir Schwarz als Weiß an, Schlechtes als Gutes: Es ist moralisch unmoralisch zu sein. Dieser Wandel hat enorme Auswirkungen, wurde jedoch durch viele kleine, kaum erkennbare Schritte erreicht.“ (S. 9)

Jonathan Aldred taucht tief in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts ein um aufzuzeigen, wie das wirtschaftliche Denken und die Idee von freien Märkten, die alle Bereiche unseres Lebens regulieren sollen, zunehmend unser ethisches Verhalten und unseren Alltag beeinflussen.

Dabei schreibt er nicht einfach eine trockene Wirtschaftsgeschichte, sondern stellt die treibenden Akteure und Organisationen in den Mittelpunkt, die für die Ausarbeitung der wirtschaftswissenschaftlichen Fundamente verantwortlich zeichnen, die heute häufig unter dem Begriff „Neoliberalismus“ subsummiert werden.

Allen diesen Theorien liegt das Menschenbild des Homo oeconomicus zugrunde, das in der Realität nicht zu finden ist, das sich dafür aber hervorragend eignet, um mathematisch exakt berechnete Prognosen über das Verhalten von Menschen als Konsumenten sowie als wirtschaftliche und soziale Wesen zu erstellen. Vorausgesetzt wird der rationale Mensch, dem alle Informationen zur Verfügung stehen, um daraus rational seine Entscheidungen zu treffen, die damit voraussagbar werden. Die Wirtschaftswissenschaften erheben damit den Anspruch, auf einer Ebene mit den Naturwissenschaften zu stehen, was durch ihre komplexen und für Laien unverständlichen mathematischen Berechnungen und Beweisführungen bestätigt zu sein scheint.

Mit sichtlichem Vergnügen lüftet Aldred den scheinbar makellosen Vorhang der Wirtschaftswissenschaften im 20. Jahrhundert und öffnet den Blick auf Wissenschaftler, Forscher und Einrichtungen, welche die Profitmaximierung als oberste Richtlinie wirtschaftlichen Handelns betrachten und Dinge wie Lebewesen und Menschen einen Preis in ihren Berechnungen zuweisen. Vorgestellt werden die treibenden Persönlichkeiten und Einrichtungen auf dem Weg in eine neoliberale Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft wie die RAND Corporation mit ihrer für den Kalten Krieg entwickelten Spieletheorie, August von Hayek, Milton Friedman, John von Neumann, John Nash, Ronald Coase, Kenneth Arrow, Gerry Becker und viele andere.

Das Sachbuch zeigt auf, wie das Denker dieser Wissenschaftler die rasant steigende Ungleichheit zwischen Arm und Reich bewirkt hat und welche Folgen sich darauf für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ergeben. Gezeigt wird aber auch, dass die von der neoliberalen Ideologie propagierte TINA-Formel (There Is No Alternative) grundsätzlich falsch ist und dass es sehr wohl menschenfreundliche Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftsform gibt.

„Letzten Endes haben wir selbst die Macht, die Ökonomik wieder auf den ihr zustehenden Platz zu verweisen. Damit sollten wir nicht allzu lange warten.“ (S. 399)

Jonathan Aldreds Sachbuch „Der korrumpierte Mensch“ wirft einen ebenso kritischen wie informativen Blick auf die wirtschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart und zeigt auf, wie es soweit kommen konnte. Dabei erleben die Leserinnen und Leser die treibenden Protagonisten und Einrichtungen der neoliberalen Ökonomik quasi in Aktion unter Einbeziehung ihrer charakterlichen Eigenheiten und Vorlieben, was viele Folgeerscheinungen auch für Laien verständlich macht.

Ein überaus empfehlenswertes, informatives, spannendes, unterhaltsames und vor allem verständlich geschriebenes Sachbuch, das sich mit einem der zentralen Themen unserer Gegenwart auseinandersetzt und vieles verständlich macht.

Jonathan Aldred, Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens, übers. v. Karsten Petersen [Orig. Titel: Licence to be Bad]
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2021, 448 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-608-98237-4

Weiterführender Link
Klett-Cotta Verlag: Jonathan Aldred, Der korrumpierte Mensch

Andreas Markt-Huter, 04-08-2021