christine zucchelli, wie tut ein wildes wandern wohlDer Tourismus benötigt jeweils hundert Prozent der Fläche eines Landes. Es gibt keine Ritze und keine Kluse, worin nicht im Verlaufe eines Jahres ein Tourist stecken würde. Tirol ist mittlerweile so erschlossen und touristisch bombardiert, dass man selbst die Literatur nur mehr dann an das Publikum bringt, wenn sie nach touristischen Grundsätzen produziert und aufbereitet ist.

Christine Zucchelli erschließt mit ihrem Wanderführer Landschaft und Literatur gleichsam. Im Gehen lässt es sich am besten denken, wissen wir seit Thomas Bernhard, und über den Gipfeln ist Ruh‘, wenn man Goethe Glauben schenkt. Wenn man zweihundert Jahre im Gebirge zurückblättert, so gibt es keinen Stein, keinen Pfad und keine Kapelle, die nicht von irgendeinem Dichter im Gebirge besungen worden wäre.

rosa s, ich musst die rute küssenWenn die Aufklärung nicht einmal in Zeiten der Globalisierung die Menschen erreicht, wie schlimm muss es erst in Zeiten gewesen sein, wenn alle noch in Tabus und totalitäre Staatsgefüge verstrickt sind?

Rosa S.‘ Lebensgeschichte ist mehrfach gefiltert wie Radioaktivität, mit der niemand ungeschützt in Berührung treten will. Anlässlich einer Radiosendung ist Rosa S. anonymisiert aufgetreten, um von ihrem geschlagenen Leben voller Gewalt zu erzählen. Die Reaktionen sind überraschend und mitfühlend. Die mittlerweile 80-jährige stellt mit Einverständnis ihrer Kinder eine schriftliche Fassung her, welche die Gewalt beschreibt, aber eventuell noch Lebende nicht denunzieren möchte.

astrid kofler, das fliegen der schaukelEine Gesellschaft kann nur dann glücklich sein, wenn sie mit der jüngeren Zeitgeschichte versöhnt ist. Der Literatur fällt dabei die Aufgabe zu, mit ihren Fiktionen und Analysen einer gemeinsamen Erzählung auf die Sprünge zu helfen.

Astrid Kofler schreibt mit „Das Fliegen der Schaukel“ so etwas wie einen Versöhnungsroman. Zur Jahrtausendwende sitzt in einem Bozner Altersheim die betagte Lehrerin Ada Torelli in verschiedenen Erinnerungsposen herum und lässt das Leben Revue passieren. Unterhaltungsprogramme, das Auftreten von Clowns oder das wortlose Altern von Mitgenossinnen wirken fast wie eine Verhöhnung eines Lebens, das da für ein friedliches Ende zusammengestellt wird.

bernhard hüttenegger, beichte eines alten narrenBei autobiographischen Texten stellt sich dem Leser immer die brisante Frage: Wie zufrieden und bescheiden ist der Autor trotz seines gewaltigen Lebens geblieben? Denn machen wir uns nichts vor, jedes Leben wird überdimensioniert wichtig, sobald es aufgeschrieben wird.

Bernhard Hüttenegger rüstet sich klug gegen den Größenwahn beim Rückblick auf das Leben. Das fängt schon damit an, dass er die Romanform wählt, worin bekanntlich alles augenzwinkernd-verschrägt dargestellt ist, und setzt sich fort mit der die Figur des alten Narren, der die Dinge zuerst in Echtzeit zurechtklopft und später als Chronik.

josef wallinger, kindheit in pradlDie affirmative Geschichtsschreibung versammelt die Menschen in ihrem biographischen Herbst und lässt sie schöne Geschichten aus der Kindheit erzählen. Dadurch wird die Vergangenheit erst einmal in eigene Worte gefasst und später zu einem Narrativ, das dem gesamten Leben einen Sinn gibt.

Josef Wallinger starte die Serie der Erinnerungen an Innsbruck mit seiner „Kindheit in Pradl“. Pradl ist dabei der Stadtteil östlich der Sill, der beinahe überall noch von Feldern umgeben ist. Der Autor empfindet seine Kindheits-Wohnung als Mittelpunkt der damaligen Welt, darum herum ist der Stadtteil Pradl aufgebaut. Das Volksschulkind schwebt ein paar hundert Meter die Hauptstraße der Pradler Straße entlang zur Volksschule, später erkundet das Kind die Umgebung, ehe es als Jugendlicher den Stadtteil auswendig gelernt und erobert hat.

inghels und Starik, das einsame begräbnisWo das Reden aufhört beginnt die Literatur. Deshalb ist der Friedhof die ideale Streusiedlung für Dichtung.

Was ursprünglich als soziales Projekt begonnen hat, ist in den letzten fünfzehn Jahren eine eigene Kulturform geworden. In der Anonymität großer Städte sterben immer wieder Menschen ohne Angehörige und Bekannte. Oft bleiben sie in einer Wohnung über und werden erst nach einiger Zeit tot entdeckt, oft haben sie sich auch wie Elefanten zum Sterben an den Rand der Gesellschaft zurückgezogen, oft erwischt sie auch der Tod aus heiterem Himmel und der Spontantod sprengt alle Zeremonien.

szilard borbely, kafkas sohnKafka ist wahrscheinlich der einzige –ismus ohne –ismus. Wer Kafka sagt, meint neben der Biographie auch einen Mythos, eine Religion, eine Schreibhaltung und lebenslängliche Auseinandersetzung mit sich selbst.

Im Nachlass des ungarischen Schriftstellers Szilárd Borbély findet sich das fast fertige Manuskript „Kafkas Sohn“, das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Diese lockere Prosa räkelt sich an der Figur „Kafka“ hoch, die explizit inszeniert ist. „Wir sehen Kafka als…“ lautet die Eingangsformel für Geschichten, die ihn im Bademantel zeigen, beim Schreiben, unter Blinden oder einfach an einem trüben Tag.

hans-ulrich wiemer, theoderich der große„Das Jahr 493 begann schlecht für die Einwohner Ravennas. Die Stadt war von der Außenwelt abgeschnitten. Lebensmittel waren kaum noch aufzutreiben und für viele unerschwinglich geworden, man hatte begonnen, alles zu essen, was sich kauen ließ, selbst Unkraut und Leder. […] Der Grund für diese Not war der Krieg, den die Könige Odovakar und Theoderich um die Herrschaft in Italien gegeneinander führten.“ (S. 15)

Das Ende der Herrschaft Odovakars und der Beginn der Herrschaft Theoderichs ist ebenso grausam wie bekannt. Wenn man den Worten den Geschichtsschreibers Johannes der Antiochener Glauben schenken darf, hat Theoderich seinen Widersacher eigenhändig mit dem Schwert erschlagen und bemerkt haben: „Nicht ein Knochen war in dem Schuft!“ (S. 15)

sonja unterpertinger, erinnerungBeim Vorlesen lässt sich oft schwer feststellen, wer den größeren Genuss hat. Ist es die vorlesende Person oder die lauschende? Ähnliches passiert beim Erinnern, wer hat den größeren Nutzen? Jemand, der durch das Erinnern mit sich selbst ins Reine kommt, oder jemand, der durch die erinnerte Geschichte mit einer anderen Welt vertraut gemacht wird?

Zur Jahrhundertwende ist das Erzählen von Geschichten von „kleinen Leuten“ in den Fokus der Geschichtsforschung getreten. Plötzlich dürfen auch Frauen ein Schicksal haben, Arbeiterinnen, Bäuerinnen. Ergebnis dieser Aufbruchsstimmung des Erzählens sind Autobiographien, die allerorten diskutiert werden.

Paul nizon, die republik nizonLiteratur ist das Drumherum, das einen Text begleitet. Für eine heftige Schriftstellerkarriere gehört es sich auch, dass der Schriftsteller Beruf und Leben als etwas einmalig Romantisches inszeniert, am besten, wenn er gleich eine ganze Republik mit seinem Namen ausruft.

Paul Nizon gilt als einer der Ganz-Großen des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Zu dieser Größe verhilft ihm erstens die lange Lebensdauer, denn als Letzter mancher Jahrgänge kann er die Literatur nach seinem Drehbuch inszenieren. Zum zweiten macht ihn stark, dass er nur über große Namen spricht, wenn er über sein eigenes Werk redet, nicht umsonst werden Literaten ab einer gewissen Fallhöhe als Blaublütler bezeichnet, die wie im Hochadel üblich nur untereinander verkehren.