Zu Zeiten, wo sich größere Bevölkerungsschichten aufmachen, so etwas wie Bildung und Lebenssinn zu inhalieren, boomen gerne die Hauskalender und Schatzkästlein, worin für alle Stimmungs- und Lebenslagen gute Tipps nachzulesen sind.

Stefan Abermann greift diesen Bildungshunger nach Snack-Portionen und Apps auf und destilliert aus diversen Abenden des Poetry-Slams lebensnotwendige Texte für den Hausgebrauch heraus. Kurze Auftritte, die vor allem auf der euphorischen Tagesverfassung des Vortragenden aufbauen, werden im Schatzkästlein zu pragmatischen Anleitungen, mustergültigen Fallgeschichten oder Breitband-Medikamenten gegen allerlei Fährnisse des Alltags herunter gebrochen.

Wundersame Geschichten, die in ihrem Verlaufe die Konsistenz der Glaubwürdigkeit wechseln, tun gut daran, handfest in den Händen der Leserschaft zu liegen und nicht als Fließtext aus der Cloud zu tröpfeln. Das ist auch der Grund, warum Martin Kolozs als Leiter des Kyrene Verlags dieses romantische Hauptwerk in eine bibliophile Ausstattung gegossen hat, gilt doch der romantische Adelbert von Chamisso als geheimer Heiliger für Phantasie und Standfestigkeit in einer bodenlosen Umgebung.

Adelbert von Chamisso ist mit seiner Schattengeschichte vom Peter Schlemihl zu einer Ikone geworden, geht es doch ähnlich wie beim Faust darum, zu erkennen, wer man ist.

Wenn Sprache zur Kommunikation dient, dann muss sie folglich durchdrehen, wenn ihre Anwender ständig Menschen töten anstatt mit ihnen zu kommunizieren.

Phil Klay, der seine Biographie am Cover auf seinen Einsatz als US-Marine im Irak reduziert, stellt in seinen zwölf Erzählungen Ereignisse vor, die auf den ersten Blick nicht von dieser Welt sind. Das beginnt mit dem ersten Satz eines Ich-Erzählers, der wie selbstverständlich davon berichtet, dass sie auch Hunde erschossen haben, die sie fachmännisch umbringen wie echte Feinde, mit drei Schuss hintereinander, sodass die Schockwellen der Gewehrkugeln das feindliche Gewebe zerstören, noch ehe das Herz getroffen ist.

Da sucht man als Leser jahrelang einen Begriff für jene Dinge, die noch fragmentarisch in der Erinnerung da sind, aber im öffentlichen Leben schon verschwunden sind, und da kommt glücklicherweise Beppo Beyerl daher und hat ihn: Verschwindung.

Verschwindung ist eine Sache, die sich allmählich in der Anwendung, dann in Erzählungen und schließlich aus der Sprache hinausschleicht. Beppo Beyerl, der Experte für verloren gegangene Kulturen stellt ganz alphabetisch 26 Ereignisse vor von Arbeiter Zeitung bis Ziegelbehm.

Die Frage nach dem sogenannten Erzählstandpunkt führt Autoren oft direkt ins Meldeamt, wo sie beinahe amtlich festlegen, wo sie wohnen.

Für Franz Tumler sind die Vorgangsweise beim Erzählen, der Ausgangspunkt der Beobachtungen, die Analyse der Vorgänge beim Recherchieren von elementarer Bedeutung. Im Verlaufe der Nachkriegszeit ist er allmählich und in kleinen Schritten in Berlin zu siedeln gekommen. So bekommt der Text „Hier in Berlin, wo ich wohne“ aus dem Jahr 1961 eine politische Bedeutung, der Autor pflanzt seinen Identitätsmittelpunkt nach Berlin.

Ein Leitsystem, das den Verleiteten nicht klar ist, führt diese in die Irre.
Anne Marie Pircher setzt in ihren neun Erzählungen über Um- und Ausstiegssituationen die Protagonisten jeweils einer besonderen Umgebung aus, worin die Koordinaten noch nicht vermessen sind, sodass die Situation samt Held und Umfeld in einen Schwebezustand gerät.

In der Titelerzählung „Zu den Linien“ wird ein erzählendes Ich in einer fremden Stadt von permanenten Hinweisen, Leitsystemen und Umsteigemöglichkeiten verleitet. Eine Frau konzentriert sich auf einen Blinden, der U-Bahn fährt. Sie versucht das Sichtbare auszublenden und sich auf Geräusche und Gerüche zu konzentrieren. An den Stationen werden verschiedene Linien ausgerufen, die als bloße Ziffern oder Buchstaben erscheinen.

Für die Aufnahme in den literarischen Klassiker-Kreis braucht es zwei Voraussetzungen: Das Werk muss für Lehrer, Schüler und das Schulwesen gut aufbereitet sein und das Werk muss für die Leserschaft griffbereit und zugänglich sein. Beides ist bei Anita Pichler momentan der Fall, wie im Nachwort stolz vermerkt wird.

Anita Pichlers Erzählung „Wie die Monate das Jahr“ handelt vor allem vom Driften, Abtauchen und Neu-Erwecken einer Geschichte durch die Zeiten und Jahreszeiten. Im Kern geht es um eine kaputte Liebesgeschichte, die anhand einer Abenteuerbiographie aus fernen Zeiten aufgefangen und restauriert werden soll.

Jedes Buch löst in der Leserschaft Reaktionen aus, aber darüber hinaus ergibt sich auch ein Wechselspiel zwischen Leseambiente und Lektüre. Ein Buch über das Sterben wirkt in einem Umfeld voller Apps wischender Kids und in Krimis blätternden Bobos geradezu elementar herausragend.

Der Arzt, Philosoph und Fiktionalist Günther Loewit hat nämlich ein kleines Handbuch über das Sterben geschrieben, worin Elemente eines Sterbe-Lexikons, Fall-Geschichten und Essays zu einem logischen Grundgedanken verknüpft sind. Wenn wir schon über die Geburt halbwegs ausgelassen mit Bräuchen und Feiern herziehen, könnten wir dann nicht auch das Sterben in Würde und Freiheit ins Auge fassen.

In einer Gesellschaft, wo das Vermehren von Kapital als das Non-plus-Ultra des Lebensglückes gilt, versuchen es einige auch mit dem Vermehren der eigenen Identitäten.

Erich Ledersberger versammelt in seinen je nach Lesart neun oder sieben Kurzerzählungen Menschen an jener Kante, wo es vielleicht noch etwas Neues geben soll, in Wirklichkeit bloß noch der Sprung in den Abgrund bleibt.

In ausgeklügelten sozialen Systemen genügt die Nennung der Wohnadresse, um die darin agierenden Personen bereits genauestens zuordnen und aburteilen zu können.

Henrik Tikkanen ist als Angehöriger der schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland sehr hellhörig, was Standesdünkel, hohe Nasen und Abschottung gegenüber dem gemeinen Volk betrifft. Sein Roman Brändvögägen 8, Brändö ist der erste der sogenannten Adressbuchtrilogie, in diesen Romanen wird anhand von Musteradressen der jeweilige Lebensstil der Bewohner beschrieben.