Große Geschichte lässt sich auch als Gegenprobe erzählen, dabei wird das Nicht-Eingetretene genauso selbstverständlich erzählt wie das Eingetretene. Die sogenannte echte Geschichte wird dabei zuerst plastisch überhöht und dann auf das erträgliche Ausmaß reduziert.

Tuomas Kyrö erzählt die Geschichte Finnlands von 1947-2013 neu, als Bonus gibt es eine Weihnachtsgeschichte, die das Märchenhafte der Gegengeschichte unterstreichen soll. Finnland ist nämlich eine Monarchie, in der König Kunkku zuerst eine rabiate Nachkriegskindheit verbracht und schließlich das Zepter übernommen hat.

Am Rand des Kontinents hören die Gespräche auf und die Geräusche dienen der Kommunikation mit dem Nichts. Auf dem Weg in das Weiße oder Schwarze dieser Leere trifft der Reporter immer wieder vereinzelte Menschen, die als Außenposten einer Erzählung angesehen werden können.

Thomas Brunnsteiner berichtet in seinen Reportagen von Menschen, die vor Jahrzehnten schon an den Rand verlorengegangen sind, sich selbst ausgesetzt haben oder auf dem Weg dazu sind wie jener LKW-Fahrer, der in seiner Arbeits- und Schlafkapsel ständig zwischen Österreich und Nordschweden hin und her fährt.

Es ist wie beim berühmten Stein, den man am Wegrand kurz wegdreht, und darunter tummelt sich ein Kosmos von Getier in voller Bewegung.

Xaver Bayer hat den Stein der literarischen Gegenwart kurz umgedreht und darunter wuseln Dutzende Erzählungen, fiktionale Hotspots und Mini-Essays aus den letzten fünfzehn Jahren. Knapp fünfzig Texte lassen sich für den Leser als Geräusche, Gerüchte und Gerüche aus dem Nebenzimmer zusammenfassen. Der Leser steht jeweils im aktuellen Hauptraum seiner Empfindungen und aus dem Nebentrakt tauchen dann plötzlich diese seltsam abgerundeten, beinahe verstümmelten Erzählfragmente auf.

So wie man eine Reise antritt, so wird sie auch ausfallen. Am aufmerksamsten reist, wer eine Reise nur einmal machen möchte.

Martin Kolozs hat bei seinem Indien-Trip zweierlei im Auge, einmal will er das Land auf die Tauglichkeit seiner Bilder abklopfen, und zum anderen will er die Auswirkungen der Reiseziele auf den Reisenden analysieren.

Wenn Tiere mehr als eine Sache aber weniger als ein Mensch sind, muss folglich auch unser Blick auf sie heftiger als auf Sachen aber weniger intensiv als auf Menschen ausfallen.

Bernhard Kathan vergleicht in seinem Essay diverse Ereignisse in Literatur, Forschung und Psychologie, die zu einem Aufeinandertreffen von Menschenblicken auf Tiere handeln. Während in der Erforschung des Faschismus der berühmte Denkansatz lautet „Tiere sehen dich an“, nimmt Bernhard Kathan den an und für sich neutralen Vorgang der Tierbeobachtung, um daran aufzuzeigen, welchen scheinbaren Menschenbildern wir dabei nachgehen.

Am eindringlichsten lassen sich Orte porträtieren, wenn Heldinnen und Helden als Fremde von diesen sozialen Gebilden angenommen oder abgestoßen werden. Die Protagonisten vereinen dabei in ihrer kombinierten Innen- und Außensicht fixe Eindrücke der Einheimischen mit elastischen Gedankengängen aus anderen Kulturen.

Ada Zapperi Zucker lässt in ihren Erzählungen meist eine Person von außen in die versteifte Idylle Südtirols kommen, womit automatisch Reibungspunkte entstehen und Aufklärungsarbeit angesagt ist.

Der literaturgeschliffene Blick wird hinter der Begriffskette „Ruf-Fall-Ekel“ gleich ein Stück Literaturgeschichte aus den 1940er und 1950er Jahren erkennen. Die kulturpolitische Zeitschrift „Der Ruf“ versammelte rund um Alfred Andersch die verstümmelten Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg, „Der Fall“ (1956) von Albert Camus zeigt anhand eines Absturzes des Helden die Zerbrechlichkeit einer Utopie, und Jean-Paul Sartres „Der Ekel“ (1938) gilt überhaupt als das Hauptwerk des Existentialismus.

Martin Kolozs baut in seinen Erzählungen immer darauf, dass der Leser schon einmal längs und quer durch die Literaturgeschichte geritten ist, um die Anspielungen, Verwerfungen und Korrekturen in den Mustern der Helden erschließen zu können. Seine Erzählungen sind oft Folien, die leicht versetzt auf angelesene Vorlagen gesetzt sind, um einen gewissen literarischen 3-D-Effekt zu erreichen.

Wenn man Familienverhältnisse von der romantischen Verbrämung befreit, bleibt meist ein skurriles Skelett abgemagerter Beziehungen übrig.

Evelyn Grill platziert in ihren neun Erzählungen die diversen Heldinnen und Helden in einer grotesken Form der Familienaufstellung. Entweder die Protagonisten wollen etwas besonders gut machen oder sie haben schon ein Desaster hinter sich und versuchen, die letzten Reste der Individualität zusammenzukehren. Jedenfalls ist kein Drehbuch so lähmend und aufwändig wie jenes, das durch Ehen, Erbschaften und Erziehungsmaßnahmen führen soll.

Den Wert einer Gesellschaft kann man an ihren Geschichten ablesen. Solange noch neue Geschichten erzählt werden, ist sie nicht gestorben. Monika Helfer erzählt als aufmerksame Alltagshistorikerin dutzende dieser Geschichten, die wie ein Lied noch Tagelang als Ohrwurm hängenbleiben.

Tatsächlich gleichen diese Geschichten jenen eindringlichen Balladen, die von den Missverständnissen zwischen den Generationen, den Abwehrmechanismen der Kulturen, der Geduld des Erforschens und dem Traum von einem geglückten Leben erzählen.

Die Geschichte ist insgesamt ein grobmaschiges System, durch das letztlich mehr Menschen unbehelligt bleiben als von ihr wahrgenommen werden. Vielleicht ist es der geheime Sinn von Menschen in Randlage, dass sie ihre Geschichte individuell verwalten und sie nicht als Baustein irgendeines Gefüges ausgenutzt werden.

Die Journalistin Alexa Wild hat sich auf die Spur eines unbekannten „Geschichts-Helden“ gesetzt und ist auf Lukas Sekolovnik gestoßen, der in der Umgebung der Soboth jenseits aller Staatsgrenzen unauffällig sein Leben verbracht hat.