Der Sinn des Lebens hat viel damit zu tun, wie das Individuum mit der Welt zurechtkommt. Dazu muss man freilich wissen, wie die Welt im Alltagsbetrieb so tickt.

Karl-Markus Gauß schreibt an und für sich Tag und Nacht die Lage der Welt als Individuum mit, alle paar Jahre verknüpft er das Leben eines Einzelnen mit der Flut von Nachrichten und Ereignissen. Der aktuelle Journal-Band „Der Alltag der Welt“ kümmert sich um plus minus 2012, als unverwechselbare Ereignisse tauchen Fukushima, Strauss-Kahn oder das Bettler-Problem auf. Die Kunst besteht nun nicht in der Aufzählung von Ereignissen, sondern in den schier unendlichen Verknüpfungsmöglichkeiten, so dass hintennach etwas wie eine Logik der Geschehnisse herauskommt.

So etwas gibt es nur in der Literatur: Einen glatten Titel, flach wie ein Parkplatz, und gleich aufregende Lebenspraktika wie das Abschneiden von Warzen mit dem Taschenmesser und dem Geruch von am Dachboden Erhängten des letzten Winters.

Stephan Denkendorf greift in seiner Erzählung „Die Hutfabrik“ in die Seelenkiste voller pastellfarbenen Blutes, er trägt die Sätze kurz und dick auf, um eine Aura zu beschreiben, die im Prospekt als „1900“ ausgerufen ist und sich dann bis fast in die jüngste Gegenwart hineinzieht.

Held dieses kleinen Kosmos hinter einem Graubündner Bahnhof ist eindeutig die Sprache. Alles, was zur Sprache kommt, klingt heimisch und exotisch zugleich.

Arno Camenisch erzählt aus der Sicht eines großen Kindes vom Jahresablauf in einem kleinen Dorf, das wie in der Schweiz üblich, durch die Eisenbahn stündlich Anschluss an die Welt hat. Hinter dem Bahnhof ist meist die Subkultur situiert, schräge Geschäfte, Nutten und Drogen werden in Großstädten hinter dem Bahnhof abgewickelt. Nicht so hier, ein paar Vaterlandsverteidiger nehmen ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum und fahren irgendwohin, um sich mit einer Übung in der generellen Motivation aufzufrischen.

Der echte Marathonlauf endet mit dem Tod. Der moderne Läufer rückt diesem möglichst nah an die Pelle und überwindet ihn. Freilich bleibt eine Todessehnsucht, sodass der Marathonläufer ständig neue Läufe in das Gelände setzen muss.

Matthias Politycki schreibt sich mit 42,192 die Kilometer einzeln vom Leib. Sein Essay ist in die Kilometer eines Marathonlaufs unterteilt und gibt in etwa wieder, was durch ein laufendes Hirn an Gedanken durchfließt, wenn die Versorgung mit Energie und Sauerstoff ans Limit kommt. Es handelt sich dabei um keinen Ratgeber, außer dem Rat, das Laufen als etwas Kluges zu begreifen.

Über Frauen und andere Geschöpfe lässt es sich nicht in einem Plot erzählen, sondern der Sound dieser Themen muss erarbeitet werden wie in einer Oper.

Ada Zapperi Zucker ist es als Opernsängerin gewöhnt, die Botschaft in zwei, drei Atemzügen auf die Bühne zu stellen. Im Falle der sieben Erzählungen über die „Frauen und andere Geschöpfe“, die naturgemäß erotisch und ironisch eingefärbt sind, gelingt dieser subtile semantische Hauch durch die Zwei-Achsigkeit der Sprache. Die Erzählungen sind links auf Italienisch geschrieben und sorgfältig übersetzt rechts auf Deutsch zu lesen, das Geheimnis der Stimmung besteht aber im Hin- und Herwechseln der Sprache. Denn die Kernbegriffe werden mit Umkreisungen herausgearbeitet, die Bedeutung ist nie fertig, manches lässt sich nur in einer Bewegung übersetzen und nicht als straffe Denotation.

Seltsam verstreut tauchen am Globus die Hotspots des Totenkultes auf. Der skurrile Berufsfriedhof an der ukrainisch-rumänischen Grenze, die Toten-Gassen in Samarkand, die Blasmusikumzüge in New Orleans: der Wiener Zentralfriedhof ist eine ideale Bereicherung auf der Route der Jenseits-Versteher.

Hilde Schmölzer startet ihren Trip durch die Welt der schönen Leich am Eingang des Zentralfriedhofs, wo es an manchen Tagen ein Treiben wie auf einem Flughafen gibt. Touristen stellen sich die interessantesten Routen durch die Totenstadt zusammen, Kellnerinnen servieren um ihr Leben, ab und zu versammeln sich dunkle Kleidergruppen offensichtlich für eine Live-Bestattung.

Von Zeit zu Zeit sollte man als neugierig gebliebener Leser Texte von geschätzten Autoren mit etwas Meta-Stoff hinterlegen. Solche Bücher über Bücher sind durchaus unterhaltsam, fordern die Intelligenz heraus und stellen ein Instrumentarium zur Verfügung, das so etwas wie „lege artis“ in der Medizin entspricht.

Markus Bundi hat während seiner Alois Hotschnig Lektüre festgestellt, dass die meisten Begriffe bei diesem Autor nicht weiterhelfen, weil er offensichtlich etwas Neues erfunden hat. Ausdrücke wie Erzählperspektive und Erzählinstanz helfen nur bedingt weiter, weil Alois Hotschnig letztlich alles daran setzt, jeglichen Erzähler zum Verschwinden zu bringen. Das wertet den Leser auf, weil er letztlich zwar von allen Hilfsmitteln verlassen wird, dadurch aber auch Souveränität gewinnt.

Erzählungen verhalten sich oft wie ein feines Netzwerk, die einzelnen Stationen sind lose und mit hauchdünnen Kontakten unter einander verbunden. Und auch die diversen Figuren hängen zwar angeschlagen in den Seilen ihres eigenen Schicksals, halten aber ab und zu noch Ausschau, wie es den Partnern so geht.

Bernhard Strobel hat um die namensgebende Zentral-Erzählung „Ein dünner Faden“ neun Erzählungen ausgelegt. Seine Thujen-Episoden sind meist in einem Einfamilienhaus angesiedelt, wo sich die Protagonisten abgeschottet von der Umwelt im vorderen oder hinteren Gartenteil oder gar im Haus aufhalten. Meist sind es ausgelaugte Paare, die sich argwöhnisch beobachten, möglichst aus dem Weg gehen, um dann bei erster Gelegenheit einen Streit um nichts anzufangen.

Die statische und wie eine Wurstware gut abgehangene Form der Liebe ist das „geliebt“, das wie „geselcht“ klingt.

Und tatsächlich haben die Figuren in Dieter Lenzens Erzählband „Geliebt“ das meiste im Liebeswesen schon hinter sich. Manche sortieren noch, andere überlegen, wie sie die Sache beenden könnten, die dritte Gruppe schaut sich selber beim Zuschauen zu.

Die Absichten der Literatur sind mannigfaltig, eine Besonderheit ist freilich, dass sie sich stets selbst analysiert und überprüft, ob die angestrebten Absichten auch erreicht werden. Die Literatur funktioniert dabei wie eine sich selbst reinigende Pfanne.

Benjamin Stein liegt viel daran, nicht nur eine ungewöhnliche Prosa zu erzählen sondern auch deren Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Die Lektüre von „Ein anderes Blau“ sollte man daher wie alle Bücher, die eines haben, mit dem Nachwort beginnen. Der Plan nach einem Erzählen der individuellen Wahrheit geht auf die Erfahrung in der DDR zurück, wo die Wahrnehmung und Wahrheit öffentlich genormt stattfindet.