Andreas Brugger, Über das Fallen

Manche Themen entwickeln geradezu eine eigene Literatur-Gattung. Das Fallen etwa ist seinerzeit während der Belagerung Leningrads von Daniil Charms literarisch zu einer solchen Spitzfindigkeit entwickelt worden, dass man ihn selbst in der Belagerung noch extra im Gefängnis festgesetzt hat, weil sein dichterisches Treiben noch im Untergang als gefährlich gegolten hat.

Andreas Brugger greift den Kosmos Fallen auf, um neben 41 Gedichten vor allem ein „Fragment über das Leben und Sterben des polnischen Lyrikers Wladyslaw Szlengel im Warschauer Ghetto“ auf die Bühne zu bringen.

Ähnlich wie Daniil Charms in Leningrad ist Wladyslaw Szlengel (1914-1943) auf das Absurdeste eingeschlossen und versucht durch „Fallen“ aus der Schwerkraft der Realität zu kippen. Ein paar Figuren rund um den Dichter herum probieren es mit Abtauch-Formeln, um aus dem Geschehen auszusteigen, indem sie ihm gleichzeitig vollends ins Angesicht schauen.

Der Bunker ist unser U-Boot. / Hinunterstoßend und unaufhaltsam versinkend. / Träumelos dem Untergang hinein [...] (114)

Das Fragment endet mit Rufen der Toten im Dunkel, die den Lebenden zurufen, nur das Gute zu suchen. (120)

Auf dieses Fragment wird der Leser mit 41 Gedichten vorbereitet, die im ersten Abschnitt  mit „Höhen und Tiefen“ überschrieben sind. Darin enthalten ist auch ein Leitgedicht über das Fallen.

Man fällt und fällt, / verliert die Nerven, / bindet die Gefühle ab / […] und schwimmt / an ein ein rettendes Ufer, / das gerade untergeht. (20)

Gedichte über den Weltcode, Folter, Menschen im Irak oder die Erde beleuchten das Fallen aus globaler Sicht, konterkariert von individuellen Depressionen im Kaffeehaus, auf einem Herbstspaziergang oder an der Seite eines lyrischen Du.

Auf deiner Seite / ist die Farbe, der Klang; / der Sinn und das Gefühl, / ist das Nächste, / das Letzte; … auf deiner Seite (49)

Im Abschnitt „Fallende“, der zentral im Buch platziert ist, kommen jene zu Wort, die oft mit ihrem Leben für eine politische Sache eingetreten sind. Sophie Scholl, Jürgen Fuchs oder Maximilian Kolbe werden in Gedichten gewürdigt, die das Zerbrechliche und Zerbrochene der Biographien auffangen.

Jürgen Fuchs // wenig Aufmunterung; / wenig Trost; / wenig Hoffnung; / so denke ich / an den Mut und die Traurigkeit eines solchen Menschen. (73)

Andreas Bruggers Gedichte und ein Fragment sind würdige Nachfahren der grotesken Dichtung eines Daniil Charms, der im sogenannten Hinfallenden das größte Rückgrat ausgemacht hat.

Andreas Brugger, Über das Fallen. 41 Gedichte und 1 Fragment
Innsbruck: pyjamaguerilleros 2008, 125 Seiten, 12,90 €, ISBN 978-3-9501923-9-1

 

Weiterführender Link:
Amazon: Andreas Brugger, Über das Fallen

 

Helmuth Schönauer, 09-04-2015

Bibliographie

AutorIn

Andreas Brugger

Buchtitel

Über das Fallen. 41 Gedichte und 1 Fragment

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

pyjamaguerilleros

Seitenzahl

125

Preis in EUR

12,90

ISBN

978-3-9501923-9-1

Kurzbiographie AutorIn

Andreas Brugger, geb. 1977 in Bruneck, lebt in Bruneck.