Paul Dowswell, Ausländer
„Anna erzählte, sie habe gehört, dass in München Tausende von Anti-Nazi-Flugblättern verteilt worden seien. Auf einmal war Peter ganz aufgeregt. „Wäre es nicht toll, aus so was zu machen“? Die halbe Nacht machte er sich darüber Gedanken. So oft hatte er seine Meinung sagen wollen und doch den Mund gehalten.“ (201)
Piotr Bruck ist knapp vierzehn Jahre alt und hat seine beiden Eltern zu Beginn der Russlandoffensive der Deutschen Wehrmacht bei einem Autounfall verloren. Er muss den Bauernhof seiner Eltern nahe der heutigen Ostgrenze Polens verlassen und kommt in ein Waisenhaus im besetzten Warschau, wo er als Kind eines deutschen Vaters von seinen Mitbewohnern nicht gerade mit Wohlwollen behandelt wird.
Aufgrund seines „arischen“ Aussehens, aber auch weil er die deutsche Sprache beherrscht, wird Piotr im August 1941 von der Berliner Familie Kaltenbach aufgenommen. Professor Franz Kaltenbach ist überzeugter Nationalsozialist und beschäftigt sich vor allem mit der Erforschung der Blutgruppen verschiedener „Rassen“, mit dem Ziel die rassische Abstammung einer Person über das Blut nachweisen zu können.
Auch Kaltenbachs Frau Liese ist begeisterte Nationalsozialistin, ebenso wie ihre drei Töchter: die zwanzigjährige Elsbeth, die dreizehnjährige Traudl und die achtjährige Charlotte. Piotr, der nun Peter genannt wird, entspricht ganz und gar dem Idealbild eines arischen Jungen, weshalb er von den Kaltenbachs, die er Onkel und Tante nennen soll, herzlich aufgenommen wird und sich auch bald zu Hause fühlt. Verstörend findet er, wie schlecht über Polen und Juden gesprochen wird.
Als er im Oktober seinen vierzehnten Geburtstag feiert, darf er Mitglied der Hitlerjugend werden, wo er sich rasch gut einlebt und Freunde findet, aber auch Feinde wie Lothar Fleischer, dessen Vater ein hoher SS-Offizier im Rasse- und Siedlungshauptamt im besetzten Polen ist und der ihn wegen der polnischen Abstammung seiner Mutter schlecht zu machen versucht. Ganz anders sein Freund Segur, der sich mit seinen frechen Bemerkungen immer wieder in Schwierigkeiten bringt.
Für Peter, der der Naziideologie nicht viel abgewinnen kann, ändert sich alles, als er eines Tages Anna Reiter kennenlernt und sich in sie verliebt. Schon bald erkennt er, dass Anna und ihre ganze Familie dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstehen, heimlich BBC hören und versteckte jüdische Familien mit Lebensmitteln versorgen.
Begeistert von der Welt und der Menschlichkeit der Reiters geht er immer mehr auf Distanz zu seiner Pflegefamilie. Als Peter, Anna und Segur eines Tages heimlich einen verbotenen Jazzclub besuchen, kommt es zu einer Razzia. Als Peter und Anna knapp flüchten können und Segur von der Patrouille der Hitlerjugend erwischt wird, beginnen sich die Ereignisse lebensbedrohlich zu überschlagen.
Paul Dowswell Roman über einen polnischen Waisenjungen in Berlin während der Nazizeit bringt auf anschauliche und lebendige Weise den Alltag im Nationalsozialismus wieder. Ganz ohne belehrenden Zeigefinger zeigt er anhand der plastisch und glaubwürdig gezeichneten Protagonisten die vielen Gesichter der Nazizeit.
Geschickt gelingt es ihm eine große Anzahl von Themen anzusprechen, wie die Judenverfolgung im 3. Reich, das Euthanasieprogramm, die Eingliederung der Jugend in Naziorganisationen, die Kontrolle der Gesellschaft durch die Gestapo, aber auch den Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie die versteckte Menschlichkeit und die Gefahren für Andersdenkende während dieser Zeit.
Mit viel Einfühlungsvermögen bringt Dowswell die gesellschaftlichen Verhältnisse und Zwänge der Zeit des Nationalsozialismus einem jugendlichen Publikum sowohl intellektuell als auch emotional näher. Ein Muss für alle, die sich mit dieser Zeit auseinandersetzen wollen.
Paul Dowswell, Ausländer. Übers. v. Katharina Förs / Bernhard Jendricke [Orig. Titel: „Ausländer“], ab 14 Jahren
Köln: Baumhaus-Verlag 2012, 351 Seiten, 15,50 €, ISBN 978-3-8339-0125-6
Weiterführende Links:
Baumhaus-Verlag: Paul Dowswell, Ausländer
Wikipedia: Paul Dowswell (engl.)
Andreas Markt-Huter, 01-10-2013