Alphabetisierungskurse für MigrantInnen, Teil 2

Mit der Neuregelung der Integrationsvereinbarung seit Anfang 2006 sind in Österreich Kenntnisse der deutschen Sprache für Migrantinnen und  Migranten verpflichtend vorgeschrieben. Für jene TeilnehmerInnen der Deutsch-Integrationskurse die das lateinische Alphabet nicht beherrschen oder nicht schreiben können, ist zunächst ein Alphabetisierungskurs verpflichtend vorgeschrieben, um Lesen und Schreiben zu lernen.

Die seit 1. Jänner 2006 in Kraft getretene Integrationsvereinbarung hat bereits im Vorfeld für heftige Diskussionen gesorgt. Dabei standen vor allem die Zwangsverpflichtung zum Besuch des Deutsch-Integrationskurses und die drohenden Sanktionen bei einem Misserfolg im Mittelpunkt der Kritik. Ihre Befürworter sehen im Beherrschen der Landessprache die  Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Einrichtungen wie z.B. das „AlphaZentrum für MigrantInnen“ an der Volkshochschule Ottakring kritisieren, dass "die Last des Integrationsprozesses einseitig den ImmigrantInnen aufgebürdet".

In Tirol werden Alphabetisierungskursen von verschiedenen Einrichtungen wie dem Berufsförderungsinstitut (bfi), dem Wirtschaftsförderungsinstitut (Wifi) und der Volkshochschule angeboten. Lesen in Tirol hat die Volkshochschule in Innsbruck besucht und mit die Leiterin der VHS Dr. Sylvia Caramelle, Mag. Christine Bitsche und der Leiterin der Alphabetisierungskurse in Innsbruck Mag. Beatrix Cardenas-Tarillo über ihre bisherigen Erfahrungen mit den Alphabetisierungskursen interviewt.


 



Teil 2

 

Lesen in Tirol: Aus welchen Ländern kommen die meisten TeilnehmerInnen der Alphabetisierungskurse?

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Der Hauptanteil unserer TeilnehmerInnen stammt aus der Türkei, wobei in letzter Zeit der Anteil an GhanesInnen sehr stark angestiegen ist. Unsere Kurse besuchen aber auch Personen aus Nigeria, Indien, Ägypten, Syrien, dem Irak und anderen Ländern, die aber eine verschwindende Minderheit darstellen.

Lesen in Tirol: Welche Rolle spielen Lesen und Schreiben für die Integration von MigrantInnen in die Gesellschaft?

Silvia Caramelle: Ich denke, Lese- und Schreibkenntnisse spielen eine große Rolle und sind eine wesentliche Voraussetzung für die Integration. Manchmal entsteht aber das Gefühl, dass manche Männer es gar nicht wünschen, dass sich ihre Frauen in die neue Gesellschaft integrieren, und dass es ihnen viel lieber wäre, wenn ihre Frauen nur unter ihresgleichen blieben. Vielleicht wollen sie verhindern, dass ihre Frauen die österreichische Kultur und dadurch so manche Ansprüche, die Frauen an die Gesellschaft erheben, kennenlernen. Wenn die Männer diese neu entstehenden Vorstellungen und Ansprüche nicht erfüllen wollen oder können, entwickeln sich daraus natürlich Konflikte.

Silvia Caramelle: Das möchte ich nur unterstreichen. Wie will ich in einer Gesellschaft, wie sie die unsere nun einmal darstellt, ohne Lesen und Schreiben überhaupt zurechtkommen? Sehr viel in unserer Gesellschaft ist auf Lesen und Schrift ausgerichtet. Ob es sich dabei um das Lesen der Fernsehzeitung oder um das Ausfüllen von Formularen handelt. Die einfachsten Dinge des täglichen Lebens können zu unlösbaren Problemen werden. Ohne Lesen und Schreiben ist der Zugang zu allen Informationen wesentlich erschwert.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Vor allem ist den Menschen ohne Lese- und Schreibkenntnisse auch der wichtigste Zugang zur Sprache verwehrt, da unsere Ausbildungen natürlich auf guten Schriftkenntnissen aufbauen. Wenn elementare Kenntnisse wie Lesen und Schreiben fehlen, sind der Spracherwerb und damit auch die Integration von vornherein sehr erschwert.

Männer haben es in dieser Beziehung durch ihre Berufstätigkeit erheblich leichter. Durch ihre Integration in den Arbeitsprozess können sie leichter Strategien entwickeln, um über ihren Analphabetismus hinwegzukommen.
Für viele Frauen ist eine wichtige Motivation für den Besuch der Kurse die Angst, ihren Kindern in der Schule nicht helfen zu können. Außerdem kommt gerade in den ersten Schultagen sehr viel Schriftliches nach Hause, womit sie natürlich nichts anfangen können. Eine unangenehme Situation, der sie recht hilflos gegenüberstehen.


Sehr viel in unserer Gesellschaft ist auf Lesen und Schrift ausgerichtet. Die einfachsten Dinge des täglichen Lebens können dabei zu unlösbaren Problemen werden. Foto: Markt-Huter

 

Lesen in Tirol: Wie hoch ist der Bedarf oder die Nachfrage nach Alphabetisierungskursen in Tirol?

Christine Bitsche: Der Bedarf ist in Innsbruck recht hoch. Wir verfolgen eine „Politik der kleinen Schritte“ und haben 12 Termine für den Einleitungskurs angesetzt. Anschließend bieten wir 3 bis 4 Folgekurse an, weil mit 24 Unterrichtseinheiten an und für sich keine Alphabetisierung möglich ist. Mit vier Kursen in dieser Länge gelingt es, die TeilnehmerInnen in die Lage zu versetzen, den Sprachkenntnisnachweis zu bestehen.

Mit zunehmenden Schriftkenntnissen verbessert sich natürlich auch die Kompetenz in der deutschen Sprache. In unseren Zweigstellen (vor allem in Schwaz, aber auch in Reutte und Kufstein) ist die Nachfrage immer wieder groß genug, um Alphabetisierungskurse anbieten zu können. Der Großteil der Nachfrage besteht aber – wie gesagt – in Innsbruck.

Silvia Caramelle: In Schwaz werden die Alphabetisierungskurse vor allem deshalb so zahlreich angenommen, weil die Alphabetisierung von MigrantInnen von Seiten der Stadtpolitik sehr stark forciert wird.

Christine Bitsche: Wir sind selbstverständlich nicht die Einzigen, die Alphabetisierungskurse anbieten. Es kommt auch vor, dass die Gemeinden selbst initiativ werden und Kurse veranstalten. In Innsbruck gibt es z.B. Privatinitiativen von Pfarren, aber auch die Caritas und der Verein „Sprachinsel“ engagieren sich in diesem Bereich.

Lesen in Tirol: Wie hoch ist die Anzahl der TeilnehmerInnen an den einzelnen Kursen?

Christine Bitsche: Zunächst braucht es zumindest drei Personen, die überhaupt wagen, einen solchen Kurs zu besuchen. Wir nehmen für unsere Kurse aus pädagogischen Gründen maximal acht TeilnehmerInnen, in Ausnahmefällen manchmal sogar bis zu zehn. An und für sich starten wir unsere Kurse aber mit drei TeilnehmerInnen.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Diese Personen ziehen dann sehr oft andere aus dem Familien- oder Freundeskreis mit, sodass die Anzahl der KursteilnehmerInnen im Laufe der Zeit merklich steigt. Hier spielt selbstverständlich die Mundpropaganda eine zentrale Rolle. Die meisten TeilnehmerInnen besuchen die Kurse dann auch bis zum Ende.

Christine Bitsche: Die Anzahl der TeilnehmerInnen ist meines Erachtens im Bereich der Alphabetisierung relativ zu sehen. Der Zuwachs von ein oder zwei TeilnehmerInnen muss grundsätzlich als viel betrachtet werden. Bei den meisten unserer Kurse wäre es gerechtfertigt, nicht von „Drop out“, sondern von „Drop in“ zu sprechen, da die Anzahl der TeilnehmerInnen im Verlauf des Kurses zumeist zunimmt. Oft schließen sich Verwandte und Bekannte an die Kurse an, bis manchmal die halbe Familie im Kurs zu finden ist.

Lesen in Tirol: Was sind die wichtigsten Merkmale eines Alphabethisierungsunterrichts für MigrantInnen?

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Die Alphabetisierung ist didaktisch gesehen eine sehr komplexe Angelegenheit. Ich unterrichte sehr teilnehmerInnenorientiert und habe meine Methoden großteils selbst entwickelt, weil es zu Beginn für diese spezifische Zielgruppe kaum didaktische Methoden und Hinweise gab. Es handelt sich um Personen, die es gewohnt sind, ihren LehrerInnen sehr großen Respekt entgegenzubringen. Diese Barriere zu lösen und den Respekt als Unterrichtende aber trotzdem nicht zu verlieren, ist mitunter nicht ganz einfach. Ich bin z.B. davon abgegangen, das spielerische Element im Unterricht zu sehr zu betonen, weil die Gefahr besteht, dass sich dadurch manche TeilnehmerInnen nicht als gleichwertige Erwachsene behandelt fühlen. Aus demselben Grund heraus verzichte ich zunächst auch auf das kollegiale „Du“, solange man sich im Kurs noch nicht so gut kennt.

Grundsätzlich ist es wichtig, individuell auf die Menschen zuzugehen. Aus diesem Grund sollten die Gruppen möglichst klein gehalten werden. Es kann klarer Weise nicht funktionieren, etwa eine Gruppe mit 30 Personen erfolgreich zu alphabetisieren. Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Alphabetisierung ist es, dass sich die Unterrichtenden in die Alltagssituation der TeilnehmerInnen hineinversetzen können. Ich persönlich profitiere in dieser Beziehung durch meinen eigenen multikulturellen Hintergrund, weil ich die Situation der MigrantInnen sehr gut kenne und daher verstehe. Die TeilnehmerInnen spüren sofort, ob sie mit ihren Problemen verstanden und ernst genommen werden oder nicht.

Der Erfolg der Alphabetisierung steht und fällt aber auch damit, wie ich mit den TeilnehmerInnen umgehe und wie ich sie unterrichte. Bei den Alphabetisierungskursen für MigrantInnen steht das Miteinander wesentlich im Vordergrund. Selbstverständlich befinde ich mich in den Kursen in der Position der Trainerin, aber dennoch stehen alle auf einer gemeinsamen Ebene. Die Kurse funktionieren nicht, wenn sich die TeilnehmerInnen verweigern. Sie engagieren sich aber nur, wenn sie würdevoll und mit Einfühlungsvermögen behandelt werden. Während der Kurse entwickelt sich häufig eine lockere freundschaftliche Beziehung, die ganz wesentlich zum Lernfortschritt beiträgt.

Vor allem bei den Frauen steht zu Beginn des Kurses die Angst im Vordergrund. Sie kommen zum Teil mit sehr schlimmen schulischen Erfahrungen zu uns, die sie in ihren Ländern gemacht haben, in denen sie von ihren LehrerInnen oft geschlagen oder beschimpft wurden. Eine Kursteilnehmerin hatte in einem Anfangskurs immer wieder angstvoll gesagt: „Bitte nicht schimpfen! Bitte nicht schimpfen!“ Solche Erlebnisse bewegen mich natürlich sehr. Ich versuche mir dann vorzustellen, was mit dieser Frau passiert sein muss, dass sie so reagiert.


Die TeilnehmerInnen spüren sofort, ob sie mit ihren Problemen verstanden und ernst genommen werden oder nicht. Foto: Markt-Huter

Manche Menschen kommen mit so starken Blockaden in die Kurse, dass kontinuierliche Lernfortschritte häufig nicht möglich sind. Diese Hemmschwellen müssen zunächst abgebaut werden. Dies geht aber nicht über den Wissenserwerb, sondern nur im Rahmen einer Vertrauensebene, die zunächst behutsam geschaffen werden muss. Nur die ehrliche menschliche Beziehung erlaubt dann vorsichtige Lernfortschritte.
Der Erfolg zeigt sich, wenn die TeilnehmerInnen die Kurse weiterhin mit Begeisterung besuchen, kontinuierlich dazulernen und schließlich den Sprachkenntnisnachweis schaffen.

Lesen in Tirol: Gibt es Schwierigkeiten, die in Alphabetisierungskursen aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Zusammensetzung der MigrantInnen entstehen?

Christine Bitsche: Es gibt natürlich TeilnehmerInnen, die bereits ein höheres Bildungsniveau aufweisen als vielleicht der Rest der Gruppe. Ich denke dabei an Leute, die z.B. aus Ägypten oder China stammen und in ihrer Sprache bereits Lesen und Schreiben beherrschen. Solchen Leuten, die vielleicht lediglich die lateinische Schrift lernen wollen, fällt es unglaublich schwer sich in eine Gruppe einzureihen, die sich meist aus AnalphabetInnen zusammensetzt. Scham und Stolz führen hier mitunter zu großen Problemen innerhalb eines Kurses.
Ein anderes Problem, das nicht übersehen werden darf, entsteht, wenn Männer sich weigern, eine Frau als Kursleiterin anzuerkennen und sich von ihr etwas sagen zu lassen.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Manchmal brechen in Kursen aber auch multikulturelle Konflikte und Animositäten auf, die wir zunächst gar nicht richtig einschätzen können. So weigerte sich z.B. in einem Kurs ein Ägypter, mit SchwarzafrikanerInnen in einer Gruppe zu sitzen.

Christine Bitsche: Es ist nicht leicht vorauszusehen, welche hierarchischen Vorstellungen bei den einzelnen TeilnehmerInnen vorhanden sind, um die eigene Person aufzuwerten: nach dem Motto: „Ich bin zumindest weiß und du bist schwarz.“ Dass ein Konflikt letztendlich so anwächst, dass es zu einem Kursausstieg kommt, war bei uns aber erst einmal der Fall.

Silvia Caramelle: Das Problem, dass es Menschen gibt, die nicht in die Gruppe passen oder sich der Gruppe nicht anpassen wollen, besteht meines Erachtens prinzipiell in allen Kursen. Hier ist natürlich das Geschick der KursleiterInnen gefragt, entstehende Spannungen wieder auszugleichen.

Beatrix Cárdenas Tarrillo: Die Kurse bieten auf der anderen Seite natürlich auch die Gelegenheit, Einblicke in mögliche Spannungs- und Konfliktfelder zwischen den verschiedenen Kulturen zu erhalten, die man als ÖsterreicherIn im Alltag sonst nie sehen würde. Auch wenn Konflikte vorkommen, spielen sich die Kurse allerdings meist sehr harmonisch ab. Vor allem dann, wenn der Frauenanteil sehr hoch ist. Dies liegt meines Erachtens daran, dass Frauen sehr viel von sich selbst geben, was z.B. oft auch Mitbringen von Speisen aus ihrem eigenen Kulturkreis bedeutet. Aus solchen Aktivitäten entsteht immer wieder ein wundervolles multikulturelles Miteinander.

Lesen in Tirol: Vielen Dank für das Interview!


>> Alphabetisierungskurse für MigrantInnen, Teil 1



Weiterführende Links:
Netzwerk Sprachenrechte
Volkshochschule Innsbruck

 

Andreas Markt-Huter, 23-03-2006

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