Erich Ledersberger, Als mein Ich verschwand

erich ledersberger, als mein ich verschwandEines der größten Rätsel ist für einen normalen Menschen das eigene Ich. Kaum jemand kann über die Strecke seines Lebens wirklich sagen, wer er wirklich ist.

Erich Ledersberger setzt seine Helden immer dem Schneidbrenner der Persönlichkeits-Konturen aus. Nicht die Helden selbst bestimmen die Umrisse ihrer Person, meist sind es nahe Verwandte, erinnernde Nachfahren oder angekratzte Partner, die nicht nur Vorteilhaftes aus der Vorlage herausschneiden.

So fragt in der Eingangsgeschichte vom „Himmel als schwarzem Loch“ das Kind unbarmherzig nach dem Großvater, als dieser eines Tages nicht mehr um die Wege ist. Die Erwachsenen reden ziemlich herum und erzählen dann von einem Aufenthalt im Himmel. Nun weiß das Kind aber, dass der Himmel ein schwarzes Loch ist, und es muss die Nachricht erst verdauen, dass der Großvater jetzt darin verschwunden ist. Die Auflösung der Identität im schwarzen Loch lässt sich offensichtlich einfacher beschreiben, als mit irdischen Markierungen eine eigene Personenbeschreibung zu setzen.

Dieses Element der Antimaterie spielt auch in der Titelgeschichte eine wesentliche Rolle. Ein normaler Ich-Erzähler verliert eines Tages seine Identität und weiß nicht mehr, wer er ist. Dieser demente Anfall bringt ihn selbst aus der Fassung, fordert aber auch die anderen heraus, weil sie erstmals überlegen müssen, mit wem sie es eigentlich zu tun haben. Zumindest in dieser Geschichte geht die Sache noch einmal gut aus. Der Geistesverlorene kriegt sein Bewusstsein zurück und kann die Sache mit einem literarischen Titel abschließen: Als mein Ich verschwand.

In den zwölf Kurzgeschichten geht es oft um längst verschüttete Geschichten aus Kellern, Kindheiten oder Klassenzimmern. Die Geschichten setzen wie Geselchtes eine Patina an, die letztlich das Erinnerungsfleisch vollkommen überwuchern.

Zeitgeschichtliche Flashes wie die Ungarnflüchtlinge kommen in einem ganz anderen Licht daher, als sie damals erlebt und aufgezeichnet worden sind. Ein Innenblick zurück in die Kindheit stößt immer wieder auf die Frage, wer bin ich? Der Erzähler wird auch heute noch gequält von dieser Frage aus Kindheitstagen, und das Schlimmste ist, er weiß bis heute nicht, ob sich nicht die Altersgenossen aus der Kindheit ähnlich gefragt haben, wer sie sind.

Als Vater stirbt, taucht eine Erinnerungsschachtel mit Kunstfotos aus dem Ambiente der Mutzenbacher auf. Jetzt gilt es die persönliche Geschichte umzuschreiben, Vater hat nicht Pornos geschaut, sondern Kunst.

Erich Ledersberger zeigt mit seinen Miniatur-Flashes, dass unsere Bilder von den Verwandten und Bekannten ständig neu upgedatet werden müssen. Wir arbeiten so lange an den Erinnerungen herum, bis sie für uns erträglich sind. Wer ein gutes Bild abgeben will, tut gut daran, es bei anderen zu hinterlassen.

Erich Ledersberger, Als mein Ich verschwand. Kurzgeschichten
Norderstedt: Books on Demand 2017, 116 Seiten, 18,50 €, ISBN 978-3-7448-0988-7

 

Weiterführende Links:
Books on Demand: Erich Ledersberger, Als mein Ich verschwand
Wikipedia: Erich Ledersberger

 

Helmuth Schönauer, 27-12-2017

Bibliographie

AutorIn

Erich Ledersberger

Buchtitel

Als mein Ich verschwand. Kurzgeschichten

Erscheinungsort

Norderstedt

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Books on Demand

Seitenzahl

116

Preis in EUR

18,50

ISBN

978-3-7448-0988-7

Kurzbiographie AutorIn

Erich Ledersberger, geb. 1951 in Wien, lebt in Innsbruck.