Markus Koschuh, Olympisches Dorf. Kleinstadt im Weltdorf

markus koschuh, olympisches dorfWenn ein Ort nicht weiß, was er will, müssen ihm die Bewohner jeden Tag einen neuen Sinn geben.

Das Olympische Dorf in Innsbruck ist seinerzeit als Sportlerunterkunft auf der grünen Wiese entstanden. Man hat freilich schon bei der Planung für 1964 daran gedacht, dass später normale Leute darin wohnen sollen. Anders bei der Schnellschuss-Olympiade 1976, als man offiziell aus Zeitnot keine ordentliche Planung machen konnte und ein bereits überholtes Hochhauskonzept ohne Charme weitergebaut hat.

Dieses zwittrige Wesen zeigt sich am öffentlichen Habitus. Einerseits sind ein paar Denkmäler aufgestellt worden wie früher Stalin-Büsten im Osten, andererseits ist nirgendwo die Schützendichte so hoch wie in den Hochhäusern, weil die Leute wenigstens einen Trachtenfetzen voll Heimat bei sich in den Stuben hängen haben wollen.

Der Kabarettist und politische Journalist Markus Koschuh geht liebevoll, aber scharfen Auges mit seiner ehemaligen Kinderstube um. Gut sieben Jahre hat er in diesem Gemenge verbracht, das für die Kinder erstaunlich viel Spiel-Brache angeboten hat. Da es keine Einheimischen gegeben hat, sind automatisch alle Kulturen zum Zug gekommen, denn für verbohrte Standesdünkel war der Stadtteil einfach zu jung.

Bereits das Cover zeigt das Dilemma des O-Dorfes. Da es sich bei der Gründung des Stadtteils um Winterspiele gehandelt hat, ist auch der Winter die tragende Jahreszeit des Zusammenlebens. Ein Spielplatz im Winterbetrieb zeigt zudem die wahren Größenverhältnisse. Wenn ein Kind ohnehin alles größer sieht, wie gigantisch muss es erst die Winterspiele und die Hochhäuser dazu sehen.

In einem patriotischen Alphabet werden die markantesten Eigenheiten des O-Dorfs vorgestellt. Am typischsten für den ganzen Osten der Stadt ist der „O“, der wie ein alpiner Seufzer mit staunendem langen Ton ausgesprochen werden muss. Allerdings wird diese Verbindung demnächst durch die Straßenbahn ersetzt und kriegt wie alle erwachsenen Stadteile eine Nummer, künftig wird die Zweier ins O-Dorf fahren.

Kleine Geschäfte, Radarkästen, Glücksspiel-Bude und Heimbordell, alles hat seinen Platz im Alphabet des Stadtteils, der sich in einer großen Umwälzphase befindet. Die tragenden Kleinkulturgüter werden nämlich laufend zu Grabe getragen wie die meisten Urbewohner, die mittlerweile über achtzig und im idealen Sterbealter sind. Gleichzeitig tun sich neue Lebensmöglichkeiten in jenen Wohnungen auf, die einst üppig für kinderreiche Familien gebaut worden sind.

Markus Koschuh stellt in einer Kurzanalyse anonymisiert einige Bewohner vor, die meist bei einem kräftigen Schluck den Sinn des Lebens im O-Dorf zusammenfassen. „A Farb muass der Pressknödel haben, blass bin ich selber.“

Das O-Dorf ist in seiner Entwicklung noch lange nicht am Ende. Ständig finden Volksbefragungen über Olympische Spiele statt, und wenn einmal wirklich ein Fehler passiert, und das Volk nicht aufpasst, dann gibt es das O-Dorf Nummer drei. Das Zauberwort der neuen Architektur heißt Verdichtung.

Markus Koschuh, Olympisches Dorf. Kleinstadt im Weltdorf, Fotos.
Innsbruck: Wagner‘sche 2018 [Erinnerungen an Innsbruck], 93 Seiten, 9,60 €, ISBN 201-8-1011-6429-1

 

Weiterführende Links:
Wagner’sche Verlag: Markus Koschuh, Olympisches Dorf. Kleinstadt im Weltdorf
Homepage: Markus Koschuh

 

Helmuth Schönauer, 05-06-2018

Bibliographie

AutorIn

Markus Koschuh

Buchtitel

Olympisches Dorf. Kleinstadt im Weltdorf

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Wagner'sche Verlag

Seitenzahl

93

Preis in EUR

9,60

ISBN

201-8-1011-6429-1

Kurzbiographie AutorIn

Markus Koschuh, geb. 1977 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.