Josef von Neupauer, Österreich im Jahre 2020

josef von neupauer, österreich im jahre 2020Utopien und Dystopien müssen den Leser mit zwei Brechstangen öffnen und bearbeiten, einmal ist es eine utopische Botschaft in Romanform, zum anderen das Aushebeln der Zeit.

Ein Buch kann noch so in der Zukunft spielen, es wird den Makel im Impressum nicht los, dass es zu einem bestimmten Jahr an einem bestimmten Ort gedruckt worden ist. Diese irdische Verankerung gilt auch für digitale Files in der Cloud.

Die Kunst dieser Romanform wird in den 1890ern vor allem in Amerika dazu genutzt, um politische Thesen und Zukunftsentwürfe zu diskutieren. Diese utopischen Thesenromane beschäftigen sich oft mit dem Thema Kommunismus, als Weiterentwicklung der Demokratie. Ein Höhepunkt dieser Gattung ist später Orwells 1984. In Europa werden diese Romane um die „Kommunisten-Angst“ diskutiert, um daraus eine Fortführung der Monarchien abzuleiten.

Josef von Neupauer nimmt 1893 diese Diskussion für die Habsburgermonarchie auf. Sein Plot ist verschmitzt und akademisch klug. Er schickt die beiden Amerikaner West und Forest nach Österreich und zwar genau in den Juli 2020. Die beiden haben sich mit den Utopien amerikanischer Thesen auseinandergesetzt und wollen diese nun in Europa diskutieren. Auf das Jahr 2020 greift man vor, weil in einer Utopie ein Professor eingeschlafen und nach 113 Jahren als Pedell erwacht ist, eine tolle Anspielung auf das österreichische Beamtentum. Fazit: Die Zeit mag am Datum herumspringen, der Beamte bleibt zeitlos stabil und ist deshalb der beste Erzähler.

Die beiden Amerikaner kommen also in Österreich an und werden einmal von einem gewissen Beamten Zwirner empfangen, der aber bald w.o. gibt, weil er gerade heiraten will. Ein Land kann man am besten durch seine Hochzeiten kennenlernen, das ist auch die Erzählweise heutiger Dokus über den Hindukusch oder den Dschungel von Goma. Als der erste Guide durch Hochzeit verschlissen ist, kommt Dr. Kolb zum Zug, er ist über-belesen und kennt zu jedem Ereignis ein Buch. Somit ist er der ideale Fremdenführer und gleichzeitig ein besonnener Moderator akademischer Diskussionen.

Da man auch als belesener Schriftsteller die Zukunft selten voraussagen kann, hält sich Josef von Neupauer als Autor selten an das Alltagsdesign, er hätte ja das Smartphone und den Screenshot voraussehen können, dafür entwickelt er vage Theorien für eine schmucklose Zukunft.

Die Besiedlung ist gerecht auf das Land verteilt, alle am Land wohnen so ähnlich wie die Tullner. Es gibt genügend kollektiven Wohnraum und die öffentlichen Ereignisse werden wie Hochzeiten im Gemeindepalast abgewickelt. Der Kaiser führt die Amtsgeschäfte verlässlich, sie dürfen aber nie länger als eine Stunde am Tag dauern. Das Rauchen ist freiwillig eingestellt, das Geld ist abgeschafft, Dienstreisen haben Vorrang, wer sich lange genug wohl verhält, kriegt einen Reisegutschein. Pensionisten machen Aufsicht im Öffentlichen Raum (72), überall finden Ruderregatten statt, Tag und Nacht gibt es ein Rennen auf einem Altwasser.

Die Menschen vermehren sich eher durch Zucht als natürlich, zu diesem Zweck ist eine Frauenkurie eingerichtet, die letztlich bestimmt, wer schön genug ist für die Vermehrung. „Schauen Sie sich die verkrüppelten Menschentypen in ihren alten Trachten an, dann sehen Sie, wie wir uns weiterentwickelt haben.“ (53) Die beiden Amerikaner leben die meiste Zeit in Tulln, von wo aus das Österreichische besonders gut erkundet werden kann. In Tagesausflügen nach Wien wohnen sie interessanten Diskussionen bei oder studieren das Bibliothekswesen. Dieses ist perfekt ausgebaut und wie ein Staat im Staat organisiert, die Bücher fetzen mit Druckluftpost quer durchs Land und tragen so das Wissen bis ins entlegenste Tal.

Während einer politischen Diskussion stellt ein Professor Lueger seine politischen Absichten dar, es gilt, in einen edlen Wettstreit zu treten, dabei kann durchaus einmal auch Eigentum für einen herausschauen. Und der Kaiser ist die ruhende Kraft im Wettstreit der Ideen, seine vornehmste Aufgabe ist es, die Ideale des Volkes zu fördern. (186) Der aktuelle Kaiser wird zustimmend Joseph der Standhafte genannt.

Das höchste Ziel des einzelnen ist es, nach Jahren des Dienstes für die Allgemeinheit „arbeitsfrei“ gestellt zu werden. Fremdenführer Kolb ist arbeitsfrei und kann deshalb besonders gut diskutieren, seine bevorzugten Themen sind Emanzipation und Beamtenschaft.

Die zwei Amerikaner machen sich bereit, das Land durch den Hintereingang zu verlassen. Nach einem Pflichtabstecher nach Tirol, wo sie vor allem in Meran nichts erleben, reisen sie über Finstermünz nach Bregenz, wo sie sich mit Eindrücken und Souvenirs aus dem sagenhaften Jahr 2020 Richtung Amerika vertschüssen.

Zurück bleibt ein Land, das in Manchem Züge der DDR trägt, das aber trotz der Abschaffung des Geldes bestens funktioniert. Der Schlüssel für dieses Glück scheint eine gelungene Geburtenkontrolle zu sein, denn der Österreicher wird umso besser, je weniger er ist.

Im Nachwort verknüpft der Autor die literarische Frömmigkeit Tolstois mit den sozialistischen Thesen Bebels und der Allgemeingültigkeit der Bibel.

Für den Leser ist es ein Genuss, als Alleswisser die Prognoseversuche aus dem vorvorigen Jahrhundert zu studieren. Der Roman ist intellektuell fit und erzähltechnisch perfekt, Reisebericht, Utopie, Rührstück und Österreich-Bashing halten einander ausgewogen in Schach.

Für Innsbrucker tut sich in Gestalt des Josef von Neupauer erneut eine Volksweisheit kund: „Wenn du endgültig sterben willst, musst du es in Innsbruck tun!“ Der pensionierte Rechtswissenschaftler starb zwischen 1. Dezember 1913 und 1. Dezember 1914 in der Innsbrucker Universitätsstraße 3/11. Sein Verschwinden in Innsbruck ist gelungen.

Josef von Neupauer, Österreich im Jahre 2020. Sozialpolitischer Roman. Mit einem Vorwort von Tobias Roth. [Originalausgabe Dresden und Leipzig 1893].
Wien: Luftschacht Verlag 2020, 295 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-903081-50-5

 

Weiterführender Link:
Luftschacht Verlag: Josef von Neupauer, Österreich im Jahre 2020

 

Helmuth Schönauer, 30-07-2020

Bibliographie

AutorIn

Josef von Neupauer

Buchtitel

Österreich im Jahre 2020. Sozialpolitischer Roman

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Luftschacht Verlag

Seitenzahl

295

Preis in EUR

26,00

ISBN

978-3-903081-50-5

Kurzbiographie AutorIn

Josef von Neupauer, geb. in den 1840ern, starb 1914 in Innsbruck.