Thomas Ballhausen / Sophie Reyer (Hg.): Sagen reloaded

thomas ballhausen - sagen reloadedSagen sind das, was die Leute über die Jahrhunderte sagen. Diese witzige Definition erfreut zwar nicht das Fachpublikum, erklärt aber, dass Sagen nie fertig sind und in jeder Generation neu erzählt werden müssen. Und wenn es einmal keine Sagen mehr geben sollte, werden auch die Leute nichts mehr sagen, weil sie ausgestorben sind.

An der Kante zu einer neuen Epoche empfiehlt es sich, den alten Erzählstoff zu sichten und zu „reloaden“. Thomas Ballhausen und Sophie Reyer initiieren dieses Projekt am Vorabend der Pandemie, als wollten sie für einen Überlebenskoffer sichten, was man für die neue Zeit einpacken und neu erzählen soll.

Die Anthologie dient dabei als spontanes Netzwerk, mit dem knapp vierzig Autorinnen für ein Thema zusammengefügt und kurzgeschlossen werden. Eine funktionierende Anthologie braucht Spielregeln, will sie nicht ins Beliebige zerfransen. Im konkreten Fall sollen die Texte kurz sein, österreichische Sagen aufgreifen, die nicht im Original, sondern als Exposé zusammengedampft sind, und einen Sachverhalt aus der Gegenwart mit dem Stoff aus der Vergangenheit verknüpfen. Die Ordnung der Anthologie hält sich an die Bergpredigt der Bibliothekare: sie besingt das Alphabet.

Ehe man sich an die „aufgearbeiteten“ Originaltexte der Autoren macht, sollte man die biographischen Einträge lesen, dort ist nämlich angeschlossen an die Bio-Daten jeweils in einem Absatz kursiv die Sage erzählt.

Zudem sollte man das Nachwort von Christa Agnes Tuczay als Einstimmung lesen, weil es mit dem verrückt-klaren Titel „Sage, Gerücht, Alltagsgeschichte“ (227) das Konzept auf den Punkt bringt. Im Überblick über die Facetten der Sage durch die Jahrhunderte werden auch Versuchsbegriffe zitiert, wie etwa „Memorat“ oder „Fabulat“, die vielleicht eine große Zukunft im Netzverkehr haben werden.

Als positive Beispiele für das Abarbeiten der herausfordernden Spielregeln seinen hier angeführt:
Hannah Bründl verwendet die Dramaturgie eines Bachlaufs, um die Bewegung einer Sage durch die Jahrhunderte zu verfolgen. „wir kennen das ende nicht, wir kennen nur das wasser“ (33) formatiert den Text wie einen Flusslauf, verbaut ihn, gibt im Brachen für Überschwemmungen und greift vor allem nicht ins Hauptmerkmal des Wassers ein: es rinnen zu lassen. Ihr Ur-Text geht auf eine oberösterreichische Sage zurück, wo Bauern einen Goldschatz im Teufelsbach vermuten. Wenn man damit das Bestreben der Behörden vergleicht, aus Wasser Wasserkraft zu schöpfen, so ist schon einmal eine gelungene Parallele zur Gegenwart gegeben.

Sophie Esterer warnt schon im Titel, die Sache ernst zu nehmen, sie nennt ihre Bearbeitung der Zwergenhöhle bei Obernberg „Der Schleuserkönig, eine sagenhafte Satire“ (62). Darin wird jemand nur dann ein Schatz ausgehändigt, wenn er in der Höhle sesshaft wird. Es entsteht der Konflikt, dass man durch Mobilität den Schatz verliert, andererseits den Schatz vielleicht retten kann, wenn man ihn über die Grenze schleust.

Walter Grond baut seinen Text „Die Teufelsmauer zu Spitz“ auf jener Sage auf, worin ein zu früher Hahnenschrei das Teufelswerk eines Kirchenbaus stören könnte. In der Gegenwart ist die Überlegung interessant, ob es in der Pandemie Hahnenschreie gibt, die den Ablauf der Seuche verkürzen könnten. Es bahnt sich eine Art „Covid-Sage“ (86) an.

Udo Kawasser bringt die Sage vom Vorarlberger Höllenhund mit der Nachrichten-Dramaturgie der Kriegsberichterstattung in Verbindung. Mit der Formel „es geschah im Krieg“ (112) wird der Schrecken zum Mahnmal umgeformt. Ein Hotelier versucht die Seuche beim Schwanz zu fassen wie seinerzeit die Vorfahren den Höllenhund, doch dieses Mal gibt es nichts zu fassen, weshalb der Hotelier in die touristische Allzweckformel flüchtet, er habe alles richtig gemacht.

Margret Kreidl (121) geht mit der „schwarzen Frau“ dem Phänomen nach, dass hinter allen Sagen ursprünglich Zeitzeugen gestanden sind, die es mit der Wahrheit nicht so genau genommen haben. Ihre Ur-Sage aus Salzburg berichtet von einer Art Wiedergängerin, die überall dort auftaucht, wo ein Sachverhalt rätselhaft bleibt.

Bernd Schuchter (193), dessen literarische Texte oft für Tourismusprospekte verwendet werden, stürzt die „Frau Hitt“ oberhalb der Stadt Innsbruck vom alpinen Sockel und lässt sie als Werbespot in der Stadtmitte auferstehen. Die Kernaussage, dass Hartherzigkeit zur Versteinerung führt, hat noch nie den Härtetest so gut bestanden wie in der Gegenwart.

Wie aktuell das ganze Reloaded-Projekt ist, zeigt die Einschätzung aus dem Nachwort, wo es unter dem „Begriff Sage“ heißt: „In der ganz konkreten Situation der Pandemie von 2020 erleben Gerüchte und in anekdotische Geschichten eingekleidete Verschwörungstheorien eine merkwürdige Renaissance.“

Thomas Ballhausen / Sophie Reyer (Hg.), Sagen reloaded. Anthologie
Wien: Czernin Verlag 2020, 272 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-7076-0705-5

 

Weiterführender Link:
Czernin Verlag: Thomas Ballhausen / Sophie Reyer (Hg.): Sagen reloaded

 

Helmuth Schönauer, 28-01-2020

Bibliographie

Buchtitel

Sagen reloaded. Anthologie

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Czernin Verlag

Herausgeber

Thomas Ballhausen / Sophie Reyer

Seitenzahl

272

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-7076-0705-5

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Ballhausen, geb. 1975 in Wien, lebt in Wien.

Sophie Reyer, geb. 1984 in Wien, lebt in Wien.