Autismus und mögliche Besonderheiten beim Erwerb des Lesens
Lesen stellt in unserer Gesellschaft eine der wichtigsten Kulturtechniken dar. Ohne die Schriftsprache zu verstehen, bleiben in unserer Kultur etliche Türchen geschlossen. Ob es das klassische Buch oder die Recherche im Internet ist – die Beherrschung der Schrift ist unerlässlich. Kinder aus dem Autismus-Spektrum scheinen trotz normaler Intelligenz mehr Schwierigkeiten im Erwerb des Lesens zu zeigen als gleichaltrige Kinder.
So wird in der Studie von Estes et al. (2011) berichtet, dass bis zu 90% der Kinder und Jugendlichen aus dem Autismus-Spektrum unter ihrem IQ liegende schulische Fertigkeiten zeigen. Wenn man noch detaillierter hinschaut, sind es immerhin 70% der Jugendlichen aus dem Autismus-Spektrum, die eine deutliche Beeinträchtigung im Bereich des Lesens, der Rechtschreibung und des Rechnens zeigen (Jones et al., 2009).
Die Ergebnisse von Hofvander et al. (2009) zeigten hierbei, dass die Häufigkeit von Lesestörungen in Kombination mit Störungen des schriftlichen Ausdrucks, sprich Legasthenie, bei den untersuchten autistischen Personen bei 14% lag, also deutlich über dem Anteil bei der gleichaltrigen Vergleichsgruppe (hier liegt der Anteil bei 4-6% lt. Schulte-Körne & Remschmidt, 2003). Woran kann das liegen und was haben Leseerwerb und Autismus vielleicht gemeinsam? Eine der Gemeinsamkeiten könnten die Schwierigkeiten in der gesprochenen Sprache sein. Verbale, also sprachliche Fähigkeiten sind neben dem IQ die wichtigsten Prädiktoren für die erfolgreiche Entwicklung der Lese- und Rechtschreibkompetenzen (Keen et al., 2016).
Kinder mit Legasthenie zeigen in mehr als 50% der Fälle eine vorangegangene allgemeine Sprachentwicklungsverzögerung oder andere Auffälligkeiten beim Erwerb der gesprochenen Sprache (Bishop & Snowling, 2004). Auf der anderen Seite wissen wir, dass Autisten eine qualitative Beeinträchtigung in der Kommunikation mit unterschiedlichen Ausprägungen vorweisen. Dies reicht von keinen Sprachkompetenzen oder nur sehr mangelhaften Kommunikationsfähigkeiten bis hin zu sehr guten sprachlichen Kompetenzen mit ganz spezifischen Besonderheiten in der sozialen Interaktion. Spannend ist, dass man in der Literatur zusätzlich eine andere Seite zwischen Schrifterwerb und Autismus entdeckt – nämlich den Zusammenhang zwischen Hyperlexie und Autismus. Kinder mit Hyperlexie finden schon sehr früh einen Gefallen an Buchstaben (manchmal auch Zahlen) und beschäftigen sind schon sehr früh mit den Schriftzeichen und dem Lesen. Sie können daher schon sehr früh, also weit vor ihren Altersgenossen lesen und teilweise schreiben.
Dieses Phänomen der Hyperlexie kommt bei 5-10% der Menschen aus dem Autismus-Spektrum vor (Burd & Kerbeshian, 1985). Welche weiteren Besonderheiten beim Erwerb der Schriftsprache bei Kindern aus dem Autismus-Spektrum werden in der Literatur berichtet? Interessant sind die Ergebnisse von Frith und Snowling (1983), die zeigen, dass die direkte Route bei autistischen Menschen oft deutlich besser als die indirekte ausgeprägt ist. Die direkte Route meint den direkten Zugriff auf den lexikalischen Eintrag im Gehirn über das Wortbild, die indirekte Route die Erschließung des Wortes über die einzelnen Phoneme (Coltheart, 1978). Das würde bedeuten, dass ein Teil der autistischen Kinder eine reine Abspeicherung der Wortform zum Lesebeginn präferieren. Dieses Phänomen kommt auch häufig mit der oben benannten Hyperlexie zusammen vor. Also scheint es, als würden die Kinder einfach eine Art Muster (Wortform) speichern. Die Frage ist, ob und wie weit dabei die Semantik mit aktiviert wird. Man würde vermuten, dass die Bedeutung des Wortes bei einem reinen Abspeichern der Wortform eher eine geringere Rolle spielt.
Damit kommen wir auch zu dem größten Problem der Kinder aus dem Autismus-Spektrum, welches eindeutig im Bereich des Leseverständnisses liegt. Dies betrifft zum einen die Sprachverarbeitung, wobei es zwar meist weniger um die Identifikation der einzelnen Wörter geht, sondern eher um die Eingliederung der Wörter in den Satz. Die Bedeutung des einzelnen Wortes innerhalb einer Satzstruktur bleibt jedoch relevant für das Verständnis des Satzes. Das bedeutet, dass Kinder aus dem Autismus-Spektrum die Technik des Lesens als reinen Ablauf zwar beherrschen können, den Leseinhalt aber nicht zwangsläufig erfassen müssen. Es ist daher wichtig, diesen Aspekt bei der Beurteilung der Lesefähigkeit mit im Blick zu haben. Die größte Hürde stellt aber die soziale Kognition dar, also das Interpretieren der Information und die Verbindung dieser zu den nicht angesprochenen sozialen Normen und Regeln. Menschen aus dem Autismus-Spektrum fällt es meist schwer, zwischen den Zeilen zu lesen. So kann es passieren, dass eine einfache Mathematikaufgabenstellung wie z.B. „Finde x!“ von Kindern aus dem Autismus-Spektrum gelöst wird, indem diese das x in der Aufgabenstellung einkreisen. Dieser Umstand hat weniger mit der allgemeinen kognitiven Kompetenz zu tun, wie auch Minshew und Kollegen (1994) zeigen.
In ihrer Studie haben sie das Leseverständnis von Kindern aus dem Autismus-Spektrum mit einer gleichaltrigen Vergleichsgruppe mit dem gleichen IQ angesehen und konnten einen klaren Nachteil für die Gruppe der Autisten finden. In der Literatur wird daher eine frühe Einbindung des Leseverständnisses in die Förderung empfohlen. Dabei ist es wichtig, sehr viel mit Visualisierungen zu arbeiten, auch bereits auf der Wortebene. Dies kann z.B. geschehen, indem man das geschriebene Wort mit einem entsprechenden Bild in Verbindung bringt, zum Beispiel spielerisch durch Memory-Spiele. Außerdem ist es günstiger, Aufgabenstellungen sehr klar zu formulieren, also z.B. in der oben genannten Mathematikaufgabe anstatt „Finde x!“, „Berechne x!“ zu schreiben. Ein weiterer wichtiger Punkt, welcher die Lesefertigkeit bei Kindern aus dem Autismus-Spektrum beeinflusst, ist die Formatierung der geschriebenen Texte. Bei Kindern mit Lesestörung ist bekannt, dass sich eine größere Schrift mit einem größeren Zeilenabstand als förderlich erwiesen hat (Rello et al., 2013; oder auch Zorzi et la., 2012).
In unserer Befragung im Rahmen einer Masterarbeit hat sich jedoch eher herausgestellt, dass die befragten autistischen Personen es präferierten, wenn die Größe, der Abstand zwischen den Wörtern, wie auch der Zeilenabstand zusammenpassen. Zusätzlich haben die Befragten angegeben, die Schriften wie Microsoft Sans, Veranda, Arial oder Liberation zu bevorzugen, dagegen wurden Schriftarten wie Algerian, Bauhaus, Comic Sans, Freestyle Scipt oder Papyrus als eher sehr ungünstig (unregelmäßig) beschrieben. Alle Beteiligten gaben auch an, dass sie es bevorzugen, sehr einfache klare Aufgabenstellungen mit möglichst wenig Ablenkung (auch durch Bilder) auf dem Papier zu haben. Das heißt, zu viele irritierende Informationen erschweren autistischen Menschen die Bearbeitung von Aufgaben und weniger ist in diesem Kontext häufig mehr und hilfreicher.
Univ. Doz. Dr. Silvia Pixner, UMIT TIROL – Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften und -technologie, Institut für Psychologie
Titelbild: Maria Klingler (http://bilder.tibs.at/node/40835)
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